Aber genau hier setzt das Romandebut des 1963 in St. Pölten geborenen Autors J. F. Dam an, und es tut dies auf eine vordergründig ganz einfache Art und Weise: Es kommt nämlich im Gewand des Kriminalromans daher, was eben gerade dazu angetan ist, die Erwartungshaltung eines Massenpublikums in Bezug auf Indien-Stereotypen zu wecken, dann aber rasch den Leser dazu zwingt, sich mit tieferen Schichten der indischen Kultur und (Geistes-)Geschichte zu beschäftigen. Dam versteht es, dies mundgerecht und wirkungsvoll aufzubereiten, und spart dabei nicht mit pechschwarzen Seitenhieben auf Kapitalismus und Imperialismus im Allgemeinen und die britische Kolonialherrschaft im Besonderen.
Der Autor hat selbst indische Vorfahren; er hat in Wien u. a. Indologie studiert und unter seinem vollen Namen Jyotishman Dam auch zwei Sachbücher über seine wissenschaftlichen und spirituellen Studien veröffentlicht (Shiva-Yoga, Diederichs Gelbe Reihe 1998 sowie Große Meister Indiens, Schirner 2006). Also ein Romancier, der sein Sujet so gut kennt, dass es geradezu eine Verschwendung wäre, es nur als billiges Lokalkolorit zu verwenden, wie dies ja leider bei minderbegabten Krimischreibern vorzukommen pflegt. Nein, genau auf Effekthascherei um ihrer selbst willen hat es Dam nicht abgesehen. Er nimmt seine Leser an die Hand, um ihnen die faszinierende Ambivalenz einer zunächst einmal durch und durch fremdartigen Welt nahezubringen – und erzählt dabei eine spannende Geschichte, die sich flüssig liest und plausibel konstruiert ist:
Der Wiener Meteorologe Bernard Rai, wie der Autor selbst „Viertelinder“ und im Buch Enkel eines Freiheitskämpfers gegen die britische Kolonialmacht, ist schockiert vom Giftmord an seiner besten Freundin Maggie Chelseworth, mit dem offenbar auch ihr verschwundener Exmann, der Ethnologe Christian Fust etwas zu tun zu haben scheint. Auf der Suche nach ihm stößt Rai auf ein geheimnisumwittertes Sanskrit-Dokument, in dem von einer Pflanze berichtet wird, die ewiges Leben verspricht. Schon bald muss sich unser Held gegen gedungene Wissenschaftler, eiskalte Ausbeuter und skrupellose Schergen der profitgierigen Pharmaindustrie behaupten und wird immer tiefer in einen Strudel tödlicher Machenschaften hineingezogen. Er setzt sich auf die Spur Christians, die ihn von Wien über Heidelberg, den Hochschwarzwald und London schließlich nach Indien in ein abgelegenes Himalayatal in Sikkim führt, von dessen Existenz niemand mehr weiß. Hier kommt es zu einem blutigen Showdown der besonderen Art, den vorwegzunehmen oder zu kommentieren ein Verbrechen am Leser wäre.
Die Story ist auf durchaus anregende Weise mit den erotischen Abenteuern seiner handelnden und wandelnden Figuren angereichert, und Dam versteht sie subtil-ironisch und mit leichter Hand in den Plot einzuweben. Auffallend sind auch von meteorologischen Termini durchsetzte Einschübe, in welchen Bernard Rai immer wieder über Wolken und Wetter sinniert und die in gewisser Weise als Sinnbilder für seinen Seelenzustand und den Fortgang der Handlung erscheinen. Überhaupt hat der Autor ein Faible für Andeutungen, Charaden und Wortspielereien: So wird der Chef der meteorologischen Abteilung zwar boss genannt (gedacht ist aber lat. bos = Ochse), ein fiktiver Berg heißt Alirgnahs, was unschwer als ein Anagramm auf den paradiesisch-utopischen Himalaya-Ort Shangri-La zu lesen ist, und selbst den Namen von Rais Antagonisten Fust mag man als Anspielung auf den Fauststoff verstehen können – auch Christian geht für sein Streben einen Pakt mit dem Bösen ein. Das Schicksalhafte des Todes von Maggie Chelseworth schließlich kommt in dem Gift zum Ausdruck, mit dem sie ermordet wurde: Atropa belladonna (griech. Atropos = die Unabwendbare), die Schwarze Tollkirsche, wird ihr zum Verhängnis.
Das könnte den Lesern nun allzu konstruiert vorkommen, doch Dams Sprache und die unterschwellige Spannung der sich nach und nach aufbauenden Handlung lassen derlei Manierismen rasch verzeihen. Dams Stil ist stets dem beschriebenen Moment verbunden, er schreibt im Präsens, was dem Roman ein gewisses Grundtempo verleiht, in reflektierenden Passagen gleichwohl eine fast schon poetische Dichte erlangt – eine Sprache der genauen Beobachtung, der präzisen Erklärung. Dam näherst sich auch den altindischen Weltvorstellungen auf angenehm unverstellte Weise, die die großen philosophischen Denkschulen dieser uralten Kultur aufscheinen lassen ohne esoterisches Schleierwerk darüber zu breiten.
Es steht zu hoffen, dass der Sachbuchautor Dam mit Der dritte Berg nicht nur einen einmaligen Ausflug in die Welt der fiktiven Prosa unternommen hat. Der rund 280 Seiten starke Roman hat kaum Längen und damit offenbar dankenswerterweise ein Lektorat genossen, welches dem Autor nicht noch weitere siebzig bis hundert Seiten lässliches Füllmaterial verordnet hat, um vermeintlichen Ansprüchen der Leserschaft an einen genretypischen Umfang gerecht zu werden. Genau dies killt bei nicht wenigen Kriminalromanen am Ende die unverzichtbare Spannung. Im Fall von J. F. Dams Der dritte Berg ist diese Spannung jedoch eigentlich nur ein Nebeneffekt, denn das Ungekünstelte der Dam’schen Sprache und seine als beiläufig getarnte Beschäftigung mit der (Kultur-)Historie Indiens bestünde den Geschmackstest auch ohne Mord und Totschlag.