Denn Baßler geht es im Grunde um die „Bestimmung einer neuen deutschen Literatur der 90er Jahre“, wobei ein „Label wie ‚Pop-Literatur‘ jedenfalls zu eng [ist]“ (12) und nicht wirklich trifft, wenn es um den Versuch geht zu erfassen, in welcher Hinsicht die von ihm herangezogene Literatur neu ist. Als Aufriß macht sich Baßler geschickt das Vorurteil zu Nutze, daß diese Texte nichts anderes als „schöne Benutzeroberflächen“ (15) zur Schau stellten. Indem er auf differenzierte Weise die jeweiligen Techniken dieser Oberflächenproduktion beschreibt und die entsprechende Literatur von einer Tiefenstruktur-Prosa absetzt, die auf „Entlarvung eines schönen Scheins hin angelegt“ und „von einem gesellschaftlichen oder sonstigen Problem her geschrieben“ ist (13), kann er das Vorurteil seiner Nichtigkeit überführen.
Daß der Autor bei der Charakterisierung des Neuen nicht in die Sackgassen der angegraut-elitären Avantgardediskussion gerät, sondern dabei auf die Kulturarchiv-Konzeption von Boris Groys rekurriert, erweist sich als überaus weittragend. Demzufolge ist nämlich etwas neu „wenn es in bezug auf die kulturellen Archive neu ist“ (21), d.h., wenn das System Kunst/Literatur etwas aus dem sogenannten für sie „profanen Raum“ (= die anderen Kulturen einer Gesellschaft wie Pop, Warenwelt, Wissenssysteme etc.) aufgreift und speichert, das so noch nicht archiviert worden ist. Das Neue ist sonach „nicht absolut neu, wie es die avantgardistische Rhetorik gern hätte […], sondern nur eben in diesem Archiv neu.“ (95)
Somit läßt sich die Idee literarischer Innovation abkoppeln von der Behauptung ästhetisch fortgeschrittenster Positionen, und es verschiebt sich die Frage der Neuheit auch deutlich in Richtung Zeitgemäßheit, nämlich, inwiefern solche Archivierungsstrategien jeweils auf andere gegenwärtige (Sub)Kulturen Bezug nehmen und worauf sie sich richten: so z.B. wolle Rainald Goetz „archivieren, was noch nicht Diskurs ist“, etwas Prädiskursives wie Rausch und Sex, wogegen Meinecke oder Stuckrad-Barre die Enzyklopädie immer schon voraussetzten. (vgl. 145)
Die einzelnen Beispiele lösen auf anschaulichste Art ein, was der Untertitel von Baßlers Buch verspricht, nämlich unterschiedliche Archivierungsstrategien nachzuzeichnen; es werden aus dem Archiv-Konzept aber keine Kriterien über die Poetizität oder ästhetische Qualität der untersuchten Texte gewonnen. Lediglich im Zusammenhang mit Handkes Zurückweisung der westlichen Warenkultur in der „Winterlichen Reise“ und seiner Beschwörung vormoderner Zustände fällt – aus gut nachvollziehbaren Gründen – die Wertung „Sozialkitsch“ (172), und in bezug auf Wolf Haas gewinnt der Autor aufgrund der Beschreibung der Textmechanismen („Der Grant als Textverfahren!“ 194) das Urteil: „das ist große Literatur“ (200).
Die Untersuchung zeigt, daß die neuen Archivisten „dezidiert nicht mit Spannungsbögen und anderen starken Erzählmustern“ (185) arbeiten – wiewohl Baßler bei Ingo Schulze und Wolf Haas durchaus raffinierte Erzählkombinatorik ausmachen kann. Ihre Texte demonstrieren indessen einen „souveränen Umgang mit der Enzyklopädie unserer Gegenwart ohne sich von der Hochkultur gänzlich abzukoppeln“ und „prätendier[en] nicht, Pop zu sein, und auch nicht, Literatur zu sein“ (203), zumindest nicht im emphatischen Verständnis von literarischer Kunst. (Ob das allerdings für alle dieser Betrachtungsweise unterzogenen Texte zutrifft und alle diese Autoren die Einschätzung teilen würden, bleibe dahingestellt, als Tendenzbehauptung wird es auf jeden Fall plausibel.)
Baßlers Untersuchung nähert sich ohne analytischen Niveauverlust kompositorisch und fallweise auch im Sprachduktus ein wenig seinem Objektbereich an, und das trägt zweifellos zu seiner ausgezeichneten Lesbarkeit bei, sie liefert fast wie die Krimis von Haas „am laufenden Band Mikro-Pointen“ (190), etwa mit dem Aperçu „daß Popkultur […] sich im wesentlichen an der Leitdifferenz Ironie vs. Rock abarbeitet“, oder durch nonchalante Bemerkungen, wenn etwa der Gestus der Adlon-Gruppe eine „snobistische Blödelroutine“ (125) genannt wird. Eine große Stärke dieses Buches liegt gewiß in den hier nicht weiter verfolgbaren überaus treffenden Detailbeobachtungen, verbunden mit souveränem Diskurszapping, was in Summe durchaus den Eindruck bekräftigt, daß das eingangs formulierte Versprechen vorzüglich eingelöst wird: aus der Beschreibung wird deutlich, daß man es bei den Texten tatsächlich mit etwas Neuem zu tun hat, das hier ins literaturwissenschaftliche Archiv eingeschrieben wird. Bloß an einer Stelle scheint sich ein Archivierungsfehler eingestellt zu haben: es war nicht „Roy Black, der aus dem Fenster sprang“ (165), sondern Rex Gildo.