#Roman

Der Anbeginn

Katharina J. Ferner

// Rezension von Ursula Ebel

Stilles Aufbegehren in archaischen Verhältnissen

Über die Frauen der Familie der jungen Protagonistin gibt es Gerede, und das zu Recht. Die Tinkturen der Tante gegen Alterserscheinungen sind harmlos im Vergleich zur umfangreichen Kräuterkunde einer Urahnin, die zu deren Brandmarkung als Hexe führte. Konversationen mit toten Seelen sind ebenso selbstverständlich im Alltag der namenlos bleibenden Ich-Erzählerin wie Spinnen eine Wohnstatt im eigenen Haarknoten anzubieten. Doch die Idylle des Dorflebens stellt sich schleichend als Farce heraus.

Risse in der dörflichen Idylle

Märchenhaft legt die 1991 in Salzburg geborene Autorin, die bisher ihr Romandebut Wie Anatolij Petrowitsch Moskau den Rücken kehrte und beinahe eine Revolution auslöste (2015) und den Lyrikband nur einmal fliegenpilz zum frühstück (2019) veröffentlichte, die ersten Passagen ihres Romans an. Gleich nach ihrer Geburt wird die Hauptfigur in die Gemeinschaft aufgenommen: „Die Menschen aus dem Dorf kamen und brachten Geschenke. Die Frauen legten mir bemalte Flusssteine unter die Wiege, damit diese mich vor den gierigen Fängen des Fährmanns schützten. Die Fischer – darunter auch die Brüder meines Vaters – hielten eine Schale mit Schnitzereien bereit, aus der meine Eltern einen Gegenstand für mich wählen durften.“ Zusammenhalt durch Feste, klare geschlechterspezifische Aufteilung der Arbeitsaufgaben und gemeinsame Traditionen bestimmen das Leben der von der Welt abgeschottet lebenden BewohnerInnen des Dorfs.

In Der Anbeginn fungiert das Dorf als Brennpunkt. Katharina J. Ferner beschreibt es als eine Art Urtyp eines vorindustriellen Ortes, an dem heilige Gesetze und starre Traditionen vorherrschen. Zur näheren Analyse greift die Autorin etwa die strikte Trennung der Geschlechter auf. Männer gehen auf Reisen und sind für den Handel zuständig, Frauen hängen im Dorf die Wäsche auf und konversieren mit Geistern. Im Gegensatz zur Aufweichung vieler grundsätzlicher Binaritäten – wie Leben und Tod, Mensch und Tier – wird in der Familie des Mädchens an der Trennung der Geschlechter widerspruchslos festgehalten. Als sich das Mädchen für die Umgebung zu interessieren beginnt, werden ihm Reisen von ihrer Mutter sofort untersagt: „Angeblich brachte es einer Frau Unglück, den Ort der Geburt zu verlassen. Ich wisse doch, wie diese Reisen endeten, schärfte sie mir ein, an Tagen, an denen meine Abenteuerlust besonders drängend war.“ (Leseprobe)

Doch die archaischen Traditionen prägen nicht nur die Lebensentwürfe der jungen Frauen, sondern rechtfertigen auch Formen der Unterdrückung bis hin zur Gewalt. Die Dienste der Engelmacherin sind insbesondere nach Festen gefragt. Die grausame Erfahrung, die die junge Protagonistin mit dem Fährmann macht, nimmt sie noch als schicksalhaft hin, den gewaltvollen Übergriff eines Freundes jedoch als Anlass für ihre stille Revolte. Katharina J. Ferner zeichnet schlüssig den Wandel der Protagonistin vom Opfer zur Täterin nach und legt somit einen Titel über eine stille weibliche Selbstermächtigung vor.

Coming of Age mit toten Seelen

Wenngleich der Roman mit der Geburt der Protagonistin beginnt, liegt der Fokus auf ihrer Entwicklung vom Kind zur jungen Frau. Zentrale Themen dieses Prozesses wie erste sexuelle Erfahrungen, das Einsetzen der Menstruation und Distanzierungen von den Eltern werden beispielhaft thematisiert. Die Protagonistin lotet ihre Möglichkeiten aus, sucht freundschaftliche Bande und lernt die im Dorf wirkenden gesellschaftlichen Mechanismen kennen. Immer wieder zieht sie sich verstört von diesen teils gewaltvollen Erfahrungen zurück und sucht Rückversicherung bei Frauen. Halt findet sie bei ihrer verstorbenen Großmutter, die mit trockenem Humor auf die Mühen der Lebenden blicken kann. Als das Mädchen ihre Großmutter beim Flechten der Haare überrascht, meint diese salopp: „Nur weil ich tot bin, heißt das noch lange nicht, dass ich auch so aussehen muss“. Die Aufweichung der Trennung von Leben und Tod ist ein wiederkehrender Topos des Buchs. Es vermittelt ein Gefühl von einer Welt, in welcher der Tod nicht als etwas Absolutes gesehen wird. Tod bedeutet Leben und umgekehrt, in der Familie herrscht die Legende vor, dass die Geburt eines Menschen stets den Tod der Mutter der Gebärenden nach sich zieht.

Auch sprachlich macht Katharina J. Ferner Ausflüge in eine längst vergangene, archaisch anmutende Zeit, indem sie antiquierte Sprachelemente einfließen lässt. Primär bewegt sie sich jedoch in einer gegenwärtigen schmucklosen Sprache. Die teils naive Einordnung der im Dorf wirkenden gesellschaftlichen Mechanismen ist der Ich-Perspektive der jungen Protagonistin geschuldet.

Die Qualität des Buchs liegt zweifelsohne im starken Willen zu erzählen: flott und leichtfüßig erschafft die Autorin ein Labyrinth aus Handlungssträngen, Figuren und mysteriösen Traditionen. Grenzen zwischen Tieren und Menschen, Toten und Lebenden sowie Realem und Imaginiertem verschwimmen zunehmend. Mit Der Anbeginn erschafft Katharina J. Ferner eine phantastische Welt, wie man sie in der gegenwärtigen Literatur nur selten findet, und spielt dabei couragiert mit den Erwartungen ihrer LeserInnen.

Katharina J. Ferner Der Anbeginn
Roman.
Innsbruck: Limbus, 2020.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-99039-184-6.

Rezension vom 10.09.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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