Sie erinnert sich. Beim Warten an der Ampel. Während sie ihr Fahrzeug durch den abendlichen Verkehr lenkt, darum bemüht, keinen Unfall zu verursachen – „Obwohl. Eine Massenkarambolage. Jetzt bremsen und sich querstellen und alle in den Wagen hineinsausen lassen. Richtiger wäre das.“ Sie erinnert sich. An Lydia, ihre Familie, ihren Mann, an ihre Liebhaber, ihre beruflichen Erfolge, und an ihre Freundschaft, die „eine lange und freundliche Liebesgeschichte gewesen war.“ Sie war der Freundin „die Privatsekretärin. Die Stellvertreterreisende. Die Privatdetektivin, die die Ausreden ausspioniert. Die Zofe. Die Stilberaterin. Die Sterbebegleiterin“ gewesen. Sie war ihr die einzige. „Und jetzt bin ich das. Jetzt bin ich die einzige.“
So mischen sich in die Trauer um den Tod der Freundin auch Selbstmitleid und Wut. „Für mich hat nie jemand nichts gegessen. Nichts getrunken. Nicht gelebt. Ich werde niemanden haben, der mit mir redet, wenn es darum geht.“ Sie beklagt den Verlust und sie klagt an, die Freundin, weil sie gegangen ist, sich selbst, dass sie ihr nicht die nötige Fürsorge hatte zukommen lassen, weder zu Lebzeiten noch zum Zeitpunkt des Todes, als sie nicht an ihrer Seite war, und insbesondere den Ehemann, die Kinder, den Vater. Das Lied, das die Familie auf der Beerdigung spielen ließ, Frank Sinatras I did it my way, klang in ihren Ohren wie blanker Hohn, wie eine späte Abrechnung. Lydia war gestorben, wie sie gelebt hatte, brav, folgsam: „Lilli hatte das Sterben gelernt wie eine Fremdsprache. Sie hat das gemacht wie alles andere auch. Begabt und mit Einsatz. Wir sind ja alle Musterschülerinnen geworden. Wir erfolgreichen Frauen.“ So beleuchtet sie in ihrem Nachruf das Leben Lydias in seiner Besonderheit sowie seiner Beispielhaftigkeit. Sie skizziert diese Frau als Freundin, als Geliebte, als Ehefrau und Mutter. Und sie erinnert sich an ihr langes Sterben, „müde vor Schmerzen, vorsichtig über sich selbst gebeugt.“
Bitter, beinahe morbid klingt der Ton dieses inneren Monologes, wütend in seiner Trauer, laut in seinem Schmerz, manchmal von einer erschreckenden Lakonik, durch die sich jedoch stellenweise die Verzweiflung angesichts der eigenen Verlassenheit, die grelle Angst vor der eigenen Sterblichkeit Bahn bricht. Die Interpunktion, die ihre Gedanken immer wieder mitten im Satz abreißen lässt, die stockende, doch unaufhörlich zur Sprache drängende Totenklage, das harte, rhythmische Stakkato der Streeruwitz’schen Prosa spiegeln das Wissen um die Unsagbarkeit des Todes. „Alles Fluchtsätze das. Alles. Ja alles überhaupt. Jeder Satz so eine Flucht. In dem Zusammenfalten der Sprache in diese Einengungen, bis dann nichts mehr ist. (…) Sie ist gestorben. Aber ihr Tod ist unbekannt.“ Ihre insistierenden Fragen, sie verhallen ungehört, es gibt weder einen Adressaten noch gültige Antworten. Daher gibt es im Text keine Fragezeichen, genauso wenig wie Ausrufezeichen, Semikolons oder Gedankenstriche. Nur die kalte Nüchternheit, die Endgültigkeit des Punktes. Knappe, schonungslose, bröckelnde Sätze, „die beschädigte Chronik eines beschädigten Lebens“.
Am Ende der zwölften Stunde zerbricht selbst der formstrenge Aufbau dieser parataktischen Kette, der stockende, spröde, jedoch unaufhörlich zur Sprache drängende Redefluss versiegt, die Totenklage klingt beinahe tröstlich „mit leisen knisternd feinen tönen“ aus.