#Roman

Den König spielen die anderen

Christa Nebenführ

// Rezension von Alexander Peer

Mehrmals ist in diesem Buch von einem faradayschen Käfig die Rede. Die geschlossene Hülle, die damit gemeint ist, beschreibt in der Physik eine Abschirmung elektrostatischer Felder. Weder hat so ein Blitz von außen eine Wirkung auf jene, die sich im Käfig befinden, noch vermag eine Entladung, die im Käfig stattfindet, nach außen zu dringen.

Tolstois berühmter Befund, wonach jede unglückliche Familie auf ihre eigene Weise unglücklich sei, stellt in Abrede, dass gerade im scheinbar unverwechselbaren Abgrund toxischer Abhängigkeit etwas Exemplarisches steckt. Es steckt auch etwas Exemplarisches über Größe und Fall des Patriarchen in diesem Text. Christa Nebenführ hat ein Buch geschrieben, dem die Zuordnung in Abrede gestellt wird. Über das Ausschlussprinzip gelingt eine Annäherung an das, was dieser Text in sich trägt. „Dies ist kein Essay. Dies ist kein Roman. Dies ist keine Anklage, Dies ist keine Biographie. Dies ist keine Abrechnung. Dies ist keine Dokumentation. Dies ist keine Krankengeschichte.“ heißt es apodiktisch. Die Sentenz endet mit der Vermutung: „Vielleicht ist es ein Lokalaugenschein.“ Gerade deshalb richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten, die hier nicht zu entdecken sein sollen: „Den König spielen die anderen“ ist von all dem etwas.

Der Titel stellt fest, dass keiner allein König sein könne. Erst durch die Unterwürfigkeit anderer und die Claqueure wird jener erkennbar, welcher der König ist. Wir begegnen hier allerdings einem König, dessen Reich verwüstet ist. Vielleicht auch deshalb, weil sein Königreich von Beginn an durch den Betrug des Königs an sich selbst geprägt ist. Im konkreten Fall durch eine Hochzeit, die ohne Heiratswunsch erfolgt, sondern weil ein Kind unterwegs ist. Der König unterwirft sich unter eine Konvention. Als wäre ihm eine Entscheidung abgenommen, was er denn mit dem Leben anfangen soll. Es zeigt sich, dass das Erkennen dessen, was er wirklich will, keine Gabe dieses Königs ist. Vielleicht liefert gerade diese Leere die entscheidende Energie für seine immer wiederkehrenden Tobsuchtsanfälle. Schon mit beiläufigen Gesten, aber natürlich vor allem mit seinem abrupt einsetzenden Schreien versetzt er seine Untertanen in Angst und Schrecken. Es zeigt sich bald, dass der König vor allem für die Tochter und die Ehefrau ein König ist. Während die Tochter aber den König zu entlarven versteht, erstarrt die Mutter vor der einschüchternden Krone.

Es wäre leicht, mit einem Inventar an psychologischen Begriffen die Beziehungen zwischen den Beteiligten der Kernfamilie zu kennzeichnen. Doch was wäre damit gewonnen? Literatur schöpft ihre Kraft etwa daraus, indem sie im Detail beschreibt, was Menschen tun, während sie anderes behaupten und umgekehrt. Gezeigt wird ein engmaschiges Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, das von außerhalb der Kernfamilie nicht aufgeknüpft werden kann. Erzählt wird aus der Perspektive der Tochter. Bei vielen Büchern wird penibel darauf verwiesen, dass Autorin und Ich-Erzählerin fein voneinander zu trennen sind. In diesem Fall ist auf das Gegenteil hinzuweisen. Es geht um eine aufklärerische Absicht, um ein minutiöses Aufdecken krankmachender Verhaltensweisen. Insofern ist das Berichtende im Vordergrund, das Fiktionale löst sich auf. Kompromisslos protokolliert das Buch Defizite. Auf Seite 67 heißt es: „Bei jeder Entscheidung, einen Vorschlag anzunehmen oder abzulehnen, stand nicht nur unsere Beziehung, sondern die gesamte Persönlichkeit meines Vaters auf dem Spiel.“ Es lassen sich viele Befunde ähnlicher Tragweite aufspüren. Doch mit diesem Beispiel lässt sich anschaulich machen, was beispielsweise in der Doppelbindungstheorie rational umrissen ist. Das Buch erzählt achronologisch von einer Familiendystopie. Es ist ein Lebensbuch, das offensichtlich geschrieben werden musste. Die Anordnung verschiedener Erinnerungsfetzen passt zum Etikett, das der Verlag unter den Titel gesetzt hat: Ein Fragmentarium. Damit ist einerseits legitimiert, diese Anordnung loser Passagen zu schaffen, und andererseits darauf verwiesen, dass es nicht darum geht, Memoiren zu verfassen, die eine Handlung von A nach B beschreiben. Vielmehr ist im Zentrum der Ereignisse die Depression der Mutter, die schließlich in den Selbstmord und so weg vom Ehemann führt. Die Wiederholungen helfen dabei, sich zeitlich immer wieder zurecht zu finden, da wild von der Kindheit zur Erzählgegenwart und zurück gewechselt wird: Traumsequenzen mischen sich mit Urlaubseindrücken unterlegt von Zitaten, etwa aus psychotherapeutischer Literatur.

Ich begreife diesen Text als Untersuchung innerfamiliärer Voraussetzungen. Schonungslos wird gezeigt, wie kläglich manche Ausbruchversuche verebben. Es ist eben keine Schwarz-Weiß-Zeichnung, die Nebenführ hier skizziert. „Ein Mensch, dachte ich, durchdrungen von überwältigender Angst und grenzenloser Sehnsucht nach Liebe“, beschreibt die Erzählerin einmal den Vater mit Empathie und Verständnis für die lauernde Ambivalenz. Aber kein Kind kann die Eltern therapieren. Auch dieses nicht. Über 200 Seiten lang erstreckt sich dieser Anschauungsunterricht über das Ziehen an einem rauen Tau. Als lesender Mensch packt man förmlich mit an und versucht die richtige Balance von Nähe und Distanz zu finden. Dabei ist dieses Bild bezeichnend, da von einem Tau nichts anderes erwartet werden darf, als eben daran zu zerren.

Aufklärerisch ist der Impuls, zu zeigen, was Therapie kann und auch nicht zu verhehlen, wo sie limitiert ist. Wie stark die Entschuldigungen kränkenden Verhaltens sind, wie übernommen das Gebot, dass die Familie doch über allem stehe und deshalb – trotz aller Kritik – immer etwas Hehres bewahren müsse. Wahrscheinlich braucht es diese Klage, damit keine Beschwichtigung mehr Platz hat. Es ist ein Buch des Aufbegehrens. Einmal heißt es im Dialog von Mutter und Tochter, „wir sprachen viel und schwiegen doch.“ Das zeigt, dass es keineswegs Sprachlosigkeit ist oder ein Unvermögen auf die Wunden zu verweisen, die das Drama nährt. In der Geschichte dieses Vaters wird sichtbar, wie sich drängend unter der Oberfläche veräußerlichter Wut eine tiefe Trauer verbirgt. Eine Trauer, die nicht eingestanden werden darf, etwa beruflich trotz hoher Begabung gescheitert zu sein, immerzu die Last getragen zu haben, ein Kriegskind zu sein, und die Rolle als Mann, Herrscher zu sein und über die Köpfe der anderen hinweg zu entscheiden. Man kann das als zentrale Angriffsfläche feministischer Ideen betrachten, denn abgesehen vom Leid, welches Unterdrücker augenscheinlich ausüben und worunter in erster Linie Ehefrauen bzw. Partnerinnen (und auch Partner) und Kinder leiden, leiden die Unterdrücker ja selbst an ihrem Verhalten und scheinen ihm doch nicht auszukommen. Es ist ferner ein Buch, das Nachkommende dabei unterstützt, sich besser ab- aber auch einzugrenzen. Vor allem auch deshalb, weil – ohne die Unversöhnlichkeit zu kaschieren – die Tochter dem Vater dann doch am Sterbebett zur Seite stehen kann. Wie zum Dank dafür, ist der Vater hier einmal durchlässig, kein König mehr, sondern Mensch.

Christa Nebenführ Den König spielen die anderen
Roman.
Wien: Klever, 2023.
234 S.; geb.
ISBN 978-3-903110-94-6.

Rezension vom 01.03.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.