#Lyrik

Dem Erinnern entrissen

Julian Schutting

// Rezension von Walter Wagner

Woran denkt der Kritiker bei Schuttings Titel? Autobiografisches? Vergangenes, das literarisch und wenn möglich endgültig abzuhandeln, also ad acta zu legen sei? Nun, der Dichter gewährt uns auf dem Waschzettel Einblick in Kommendes, und so wird der Kreis potenzieller Leser unverzüglich reduziert. Auf solche nämlich, die sich als Liebhaber antiker Mythologie begreifen: „Der erste Teil dieser Gedichte ist großteils griechisch bestimmt, ist stilistisch so uneinheitlich wie (pardon): die letzten Streichquartette von Beethoven.“

Genau hier drückt der Schuh. Schutting schwelgt bald in altertümelnder Lyrik, bald in salopp-vulgärer Gossensprache und beschenkt den Leser mit Komposita, die eher an Thomas Bernhard denn die antiken Vorbilder gemahnen. Auf Odysseus‘ Gesellen anspielend, wird „saubärabholde“ Reinlichkeit den Kindern anempfohlen; Hühner, „diese Mänadenbrut“, verzehren in einer „pars-pro-toto-Aktion“ die Eingeweide ihres zuvor geköpften Hahnes; ein „Unterweltler“ wird Hades gescholten. An anderer Stelle erfahren wir von Aphrodite, die, ihre Freier abwehrend, „aus Meeresglättungs-, aus Liebesrettungsgründen: betreibt sodann unbegründet Faulschlammgegründel“. Staunend stolpern wir über Schuttings Wortungetüme, die wie verstümmelte Krieger nach der Schlacht von Troja verstreut liegen.

Was der Dichter dem klassischen Griechenland entrissen hat, spottet zurecht langatmigen Pensen und Lektüren der gymnasialen Oberstufe. Er ist keck und frech, lässt die Helden vögeln, wie sie kommen, und nimmt darauf Bedacht, dass die Fellatio nicht zu kurz kommt. „O daß du, Toni“ (vulgo Antonius), wenn du könntest, deiner Kleopatra „in die Goschn schifftest“. Ach, es ist anstrengend, ein Held zu sein!

Anstrengend ist Schuttings Griechenland-Reise allemal, und der Leser freut sich auf den zweiten Teil des Bändchen, der dem Andenken von Kaiserin Elisabeth gewidmet ist. Durch die Lektüre von Hamanns Biografie geläutert, weiß der Lyriker Anekdoten und Eigenheiten der Frühverstorbenen zu berichten. Er besingt ihr Denkmal im Volksgarten, nennt die Selbstverliebtheit der Wittelsbacherin, erklärt, warum sie Irrenanstalten so gern besuchte und gibt ein Geheimnis preis, von dem nicht einmal ihr kaiserlicher Gatte etwas wusste: eine Tätowierung am rechten Oberarm. Sisis tragischem Tod folgt ein Fax, in dem das lyrische Ich die zeitlebens von Unrast Getriebene posthum zur Heutigen erklärt. Sie ist unsere Seelenverwandte: „Sternenasche und Sternschmelze“ auf ihr Haupt!

Mit Dem Erinnern entrissen leistet Julian Schutting seinen Beitrag zur Rezeption der Antike, die sich in der europäischen Literatur einer langen Tradition erfreut und in Österreich dank Ransmayr oder Köhlmeier lebendig geblieben ist. Das klassische Erbe auf unkonventionelle Weise zu pflegen, dieses Verdienst kommt Schutting zweifelsohne zu. Aber wird der Konjunktiv II genügen, um „in ein Deutsch-Lehrbuch einzugehen“? Wer also wird Orpheus‘ Gesang lauschen? So gilt für diese Lyrik, was im Lessingschen Epigramm dereinst auf einen anderen Großen gemünzt war: „Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen?“

Dem Erinnern entrissen.
Gedichte.
Salzburg: Otto Müller Verlag, 2001.
100 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7013-1026-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 21.08.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.