#Prosa

Déjà-vu mit Pocahontas. / Raritan River.

Michael Stavaric

// Rezension von Jelena Dabić

Wer Arno Schmidts Seelandschaf mit Pocahontas noch nicht gelesen hat, sollte es spätestens jetzt tun. Aber zuerst Stavarics neuestes Buch, das quasi eine „Pocahontas Revisited“ ist, und dann erst Schmidts Erzählung. Oder umgekehrt, egal. Beides ist im höchsten Grade beglückend.

Nach mehreren geheimnisvoll-vieldeutigen autobiographischen und scheinbar autobiographischen Texten, nicht selten in einer Art experimenteller Prosa verfasst, die Kindheit, Jugend oder auch Fragen der Erwachsenenidentität zum Thema hatten, überrascht der längst etablierte Autor mit zwei neuen Erzählungen, die (scheinbar) von Indianern handeln. Im gleichen Maße, in dem Terminifera, Nkaah oder stillborn zum Teil in phantastischen, außerirdischen oder mythischen Welten spielen, sind beide Erzählungen des neuen Bandes mitten im ganz normalen Leben angesiedelt: in einem IC auf der Strecke Nürnberg-Freudenstadt bzw. im US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey (äußerster Nordosten). Hier ist alles realistisch, sichtbar, bekannt oder irgendwo gesehen bzw. nachgelesen – die Quellenangaben werden gleich mitgeliefert.

Ja, vielmehr macht der Autor keinen Hehl draus, wie er zu diesen Orten und in weiterer Folge zu den Texten gekommen ist: eine Lesung führe ihn nach Deutschland, ein Lehrauftrag nach New Brunswick im besagten Bundesland. Und selbst der Weg des fast fertigen Textes zum Verlag wird nonchalant dem Leser transparent gemacht: auf den Innenseiten des Einbands (nicht auf dem Buchumschlag) ist die ganz sicher authentische Mailkorrespondenz Stavarics mit der (echten) Czernin-Lektorin abgedruckt. Der Autor bietet den Textentwurf an, die Lektorin nimmt ihn nach einigen Vorbehalten freudig auf. Der Mailwechsel der beiden – großes gegenseitiges Vertrauen und ein sehr freundschaftlicher Umgangston, verbunden mit der Absicht, den anderen mindestens gut zu unterhalten – zeichnet diesen Mailwechsel aus, der auch ein kleiner Flirt sein könnte. Zugleich gibt er einen Vorgeschmack auf den äußerst humorvollen Grundton, der den Leser den ganzen Text hindurch begleiten wird.

Gewisse Bedenken hat die Lektorin, ob es nicht übermütig sei, sich an Arno Schmidt heran zu wagen. Diese kann sie getrost ablegen! Stavarics Pocahontas ist ihrer älteren Schwester durchaus würdig, auch wenn sie kürzer und weniger dramatisch ausgefallen ist. Überhaupt unterscheiden sich die beiden wunderbaren Erzählungen in vielerlei Hinsicht – trotz absolut unverkennbarer Verwandtschaft. Erstens einmal: die Situation. Unser Reisender – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Autor selbst, trotz allen Grundregeln der Literaturwissenschaft – ist allein unterwegs. Und er macht auch keinen Urlaub, sondern ist rein beruflich auf Lesetour durch Deutschland. Bei Schmidt haben wir es mit zwei Junggesellen (einer ist Witwer mit Sohn, aber das tut nichts zur Sache) mehr oder weniger im besten Mannesalter zu tun, die in den Jahren der endenden Nachkriegszeit und des beginnenden Wirtschaftswunders an einem nicht näher definierten See der Bundesrepublik Urlaub machen. Die beiden Herrschaften begegnen zwei deutlich jüngeren Mädchen (Büromädchen, Stenotypistinnen o. ä.), zwei ebenfalls gemeinsam reisenden Freundinnen. Dennoch konzentriert sich die Erzählung auf die Liaison des Ich-Erzählers mit der relativ dunkelhäutigen und -haarigen Selma, die er vom ersten Tag an Pocahontas nennt. Die große und sehr magere junge Frau ist so hingebungsvoll wie erfahren, so kindlich-geschwätzig wie zu großen Gefühlen fähig – immer im Bewusstsein, dass der Urlaub ein Ende haben wird. Und dass sie verlobt ist.

Stavarics Indianerprinzessin (die Assoziation zu Pocahontas kommt dem Reisenden eher spontan) ist eine Zufallsbekanntschaft: eine in Nürnberg zugestiegene junge Frau aus Deutschlands Provinz, wohl auch eine kleine Angestellte, die dem Literaten, angesichts der intimen Situation ganz Mann, im Laufe mehrerer Stunden Gesellschaft leisten wird. Attraktiv ist sie allemal, wenn auch von ihrem Äußeren sonst nichts bekannt wird, und sie steht Selmas kolossaler Unbildung oder gar Dümmlichkeit in nichts nach („Mit dem Lesen hab ich’s nicht so“). Vergeben ist sie auch, zwar nicht verlobt, sondern in einer fixen Beziehung steckend (standesgemäß mit einem Klempner). Andererseits trägt sie unverkennbare Attribute des 21. Jahrhunderts: hatte Selma noch ungeheuren Appetit, wenn es um fette Sachen ging (Speckkuchen), ist die neue Pocahontas (die durchgehend namenlos bleibt) Vegetarierin und bestellt im Speisewagen Salat. Auch darf der Mann sein starkes Begehren nur in seinen Gedanken ausleben – für mehr fehlt es den beiden an Zeit, und zudem steigen gelegentlich weitere Fahrgäste zu. Das ständige Bewusstsein seiner großen intellektuellen Überlegenheit gegenüber der viel jüngeren Frau (die Mitreisende kann etwa mit dem Namen Prometheus nichts anfangen), ja geradezu ein liebevoll-väterliches Herabblicken auf das junge, hübsche Dummerchen aus der Provinz, teilt er zwar mit Schmidts Helden, dennoch bleibt er dem Leser trotz all seiner stillen Spottlust äußerst sympathisch.

Doch das eigentlich Zentrale an den beiden Pocahontas-Erzählungen ist weniger eine unverhoffte, mehr oder weniger kurze Liebesgeschichte zweier ungleicher Menschen, sondern ein in unzähligen Details und Kommentaren festgehaltenes haarscharfes Bild einer Zeit und ihrer Gesellschaft. Stavaric – nicht nur in diesem Punkt des Altmeisters Schmidt würdig – kommentiert ununterbrochen alles um sich herum, und das in einer Weise, die zum Brüllen komisch ist. Auch den unverkennbaren schmidtschen Stil trifft er perfekt: kurze, oft zusammenhanglose, aneinander gereihte Sätze, Herrenwitze, Bildungsvokabular, Fremd- und Fachwörter, Kommentare der eigenen Aussagen, Lust an Wörtern und Bezeichnungen, freie bzw. kreative Wortverwendung, Wortspielereien aller Art.

Raritan River, die zweite der beiden Erzählungen, ist zwar etwas anders konzipiert, aber nicht weniger witzig. Der Indianerbezug wird hier gewahrt: wie so viele andere Orts- und Flurnamen in den USA und Kanada ist auch der Name des Flüsschens in Nordosten der Staaten indianischen Ursprungs. Und viele andere Namen, Orte, historische Personen und Geschichten auch. Raritan River bringt eine Reihe von Reiseskizzen eines allein reisenden Erzählers. Benennt der Autor die Kapitel der „Pocahontas“ nach den Bahnstationen, die gerade passiert werden (inklusive Kilometerangabe) – ähnlich wie Wenedikt Jerofejew in seiner legendären Reise nach Petuschki – geht er im Raritan River einen Schritt weiter: zu jedem Ortsnamen dichtet der Autor – wieder einmal in hochkomischer Weise – auf Englisch: „Somerville, too hot here, the way I feel“, „Sayreville, istolated thunderstorms, land of the free, pay the fee“. „Not to be missed!“ ist das einzige, was man zu diesen liebevoll-lustigen Reimereien sagen kann. Und ein paar Ganzseitenfotos in Schwarzweiß (vom besagten Fluss, aber nicht nur) sowie einige Schriftstücke des täglichen Gebrauchs (Eintrittskarten, kurze Benachrichtigungen) liefert der Text auch mit. Obendrein erweist sich Stavaric auch als äußerst gewandt im Schildern von Natur und Stadtszenerien, auch mal ganz ernst oder gar melancholisch.

Wer etwa Handkes Kurzen Brief zum langen Abschied gut nutzen konnte, um sich (mangels entsprechender Reisen) ein Bild von den USA zu machen, wird in Raritan River eine wunderbare (und äußerst vergnügliche) Ergänzung finden. Pocahontas hingegen liefert eine längst fällige, zeithistorisch aktualisierte Auseinandersetzung mit Arno Schmidt und seiner Sommerromanze. Für beides hat Stavaric einen leichtfüßigen, ausdrucksstarken und unverkennbaren Ton gefunden.

Déjà-vu mit Pocahontas. / Raritan River.
Erzählungen.
Wien: Czernin Verlag, 2010.
104 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-7076-0326-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 12.10.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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