#Prosa

Dein Schatten tanzt in der Küche

Barbara Frischmuth

// Rezension von Sabine Schuster

Dein Schatten tanzt in der Küche heißt der neue Band mit Erzählungen von Barbara Frischmuth im Berliner Aufbau Verlag. Nach ihrem autobiografischen Roman Verschüttete Milch (2019), einem literarischen Rückblick auf bewegte Kindertage in Altaussee während des Zweiten Weltkriegs, folgt nun, kurz vor dem 80. Geburtstag der Autorin, ein fiktionaler Erzählband mit fünf einprägsamen Frauenporträts, die einerseits durch die Verlusterfahrungen der Heldinnen, andererseits durch ihren lakonischen, unsentimentalen Stil klar miteinander verbunden sind. „Sie wurde angeschwemmt“, lautet etwa der erste Satz der titelgebenden Erzählung Dein Schatten tanzt in der Küche. Darya ist mit ihrem Geliebten Adnan vor einer Zwangsehe geflohen, sie mussten das sinkende Flüchtlingsboot verlassen, aber Adnan konnte nicht schwimmen.

Barbara Frischmuth, die Ausseer Hotelierstochter, die Englisch, Türkisch, Ungarisch und Orientalistik studierte, mit gerade einmal zwanzig Jahren Gründungsmitglied des Grazer Forum Stadtpark war und 1968 im renommierten Suhrkamp Verlag ihren ersten Roman Die Klosterschule publizierte, ist zweifellos eine Frau, die weiß was sie will. So auch die Heldinnen ihrer fünf neuen Erzählungen, die ausnahmslos große Pläne haben, aber vom Schicksal hart angefasst werden.

Der Tod spielt stets eine tragende Rolle, er kommt plötzlich und wird immer wieder zum Wendepunkt einer Geschichte, zwingt die Hinterbliebenen, sich neu zu orientieren. In der finalen und längsten Erzählung des Bandes, Die Rötung der Tomaten im Winter, schlägt er gleich zweimal zu. Am Anfang stirbt ein ungeborenes Kind, am Ende auch seine junge Mutter, und zwar genau in jenem Moment, als sich ihr Leben zum Guten wendet und sie es – vielleicht zum ersten Mal – in vollen Zügen genießt. Der Ort, an dem die Heldin Doris ganz bei sich ankommt, ist übrigens ein Gätnereibetrieb, in dem neue Konzepte einer urbanen Kreislaufwirtschaft erprobt werden – „Aquaponic“ lautet der Fachbegriff – „Willkommen bei den Tomatenfischen“! (S. 152) Frischmuth, die nicht nur als Autorin, sondern auch als Gärtnerin und Autorin von Garten-Büchern erfolgreich ist, zeichnet hier ein märchenhaft anmutendes Biotop, in dem die Pflanzen und die Liebe um die Wette wachsen. Umso schmerzhafter ist dann die Zerstörung dieser Idylle, die sich plastisch wie eine Filmszene vor den Augen der Leser:innen abspult und lange in Erinnerung bleibt. Zum wiederholten Mal zeigt die Autorin an dieser Stelle, dass Glück nicht von Dauer und nur in seiner Zerbrechlichkeit Gegenstand von Literatur sein kann.

Auch Darya aus der bereits erwähnten Titelgeschichte hat bereits in ihrem neuen Leben Fuß gefasst, als ein kleiner Flüchtlingsbub den Schleier ihrer Amnesie durchbricht. Er ist ihr Schüler, er schreibt Gedichte und er heißt Adnan wie ihr ertrunkener Geliebter: „Dein Schatten tanzt in der Küche“, steht in seinem Heft, und sie spricht erstmals seit ihrer Flucht wieder Arabisch, um ihn zu fragen, was er damit meint. Er antwortet: „Meine Mutter. Ich möchte, dass sie tanzt und nicht immer traurig ist.“ Adnans Mutter ist traurig, weil sein Vater auf der Flucht ertrunken ist. War Adnans Vater zugleich Daryas Geliebter? Die Frage wird nicht beantwortet, doch Daryas Welt bricht ein weiteres Mal zusammen. Endgültig, wie es scheint.

Hoffnungsvoll endet lediglich die Erzählung über Agnes, die nach 25 Jahren von ihrem Mann verlassen wird und sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei fühlt. Sie stammt aus Ungarn und wurde als junge Frau zur Prostitution gezwungen. Als sie für ein paar Tage den kleinen Stiefsohn ihrer Tochter Mo betreut und der Bub nicht von der Schule heimkommt, gleichzeitig die Tochter nicht erreichbar ist, brechen alte Ängste wieder auf. Ist Mo etwas passiert? Wiederholt sich gerade ihre eigene Geschichte? Doch dieses eine Mal geht alles gut aus. Enkelhaft heißt diese versöhnliche Erzählung.

Die ehemalige Schauspielerin Amelie in Kein Engel vor meiner Tür ist zwar alt und einsam, sorgt aber mit ihrem ungebrochenen Lebenshunger für rührend-komische Momente. Amelie zieht sich das Kostüm aus ihrem einzigen erfolgreichen Film an und geht damit zweimal die Woche ins Kaffeehaus frühstücken. Noch einmal will sie gesehen werden, und eines Tages wird sie sogar erkannt. Es ist ihr alter Filmpartner Daniel, und die beiden tauschen im Laufe eines Abends nicht nur Erinnerungen aus. Am nächsten Morgen ist er allerdings tot.
„Warum ausgerechnet in meinem Bett?, fragte sie ihr Gegenüber. Weil er kein anderes hatte! […] Im Augenblick fiel ihr nicht einmal sein Nachname ein. Sie ging zurück ins Schlafzimmer und suchte in seinen Sakko- und Hosentaschen. Eine Brieftasche fiel zu Boden. Geld war keines drin, aber zumindest die Identitätskarte. Daniel Herzog, geboren 1948. Sollte sie versuchen, ihn anzuziehen? […] Zumindest die Hose sollte er anhaben, wenn sie ihn holten. Das war sie ihrem Traum allemal schuldig.“ (S. 89f)

Alle Frauen in diesen fünf Erzählungen sind Figuren mit großer Energie und bei aller Härte, mit der das Schicksal zuschlägt, keinesfalls nur Opfer. Selbstermächtigung und Schuld gehen oft Hand in Hand, und in allen Geschichten bleiben auch Fragen offen. Thematisch knüpft Barbara Frischmuth an die tragischen Lebenslinien aus ihrem Band Woher wir kommen aus dem Jahr 2012 an, in dem sie drei Frauen verschiedener Generationen porträtiert, die alle einen geliebten Menschen verloren haben.

„Wo immer man einen Schnitt macht, bleibt eine Wunde, aber manchmal fördert der Schnitt auch das Wachstum“ – dieses Zitat auf dem Cover von Frischmuths ebenfalls 2021 erschienenem Essayband Natur und die Versuche, ihr mit Sprache beizukommen, ist als grundlegendes Narrativ auch in den literarischen Erzählungen präsent. Es stammt aus Anna Lowenhaupt Tsings Ausführungen zum Matsutake-Pilz (Der Pilz am Ende der Welt), der vom Menschen zerstörte Waldböden besiedelt und mit seiner Unkultivierbarkeit Rätsel aufgibt. Tsing spricht in diesem Zusammenhang von einer „3. Natur“, die alles bezeichnet, was trotz der Verheerungen durch den Kapitalismus am Leben zu bleiben vermochte. (S. 52)

Natur und die Versuche, ihr mit Sprache beizukommen ist in der Reihe „Unruhe bewahren“ des Residenz Verlages erschienen und enthält zwei Vorlesungen Frischmuths an der Akademie Graz, die das Verhältnis von Mensch und Natur und seine sprachliche Darstellung thematisieren – vom biblischen Sündenfall bis zum heutigen Anthropozän, in dem wir der Natur sukzessive den Boden entziehen.
Ein großes Plädoyer für Naturwissen, für das Wissen, dass wir Menschen nur eine Art von unendlich vielen sind, die auf diesem Planeten leben, und eine Hommage „an die größten Netzwerker auf dieser Erde, die Pilze, die imstande sind, so gut wie alles mit allem zu verbinden“. (S. 72)

 

Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien (Abschluss 1992), Tätigkeit für die schule für dichtung in Wien, die IG Autorinnen Autoren und den Folio Verlag, ab 1993 im Team des Literaturhaus Wien, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins.

Barbara Frischmuth Dein Schatten tanzt in der Küche
Erzählungen.
Berlin: Aufbau Verlag, 2021.
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-351-03861-8.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Rezension vom 30.06.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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