#Lyrik

datenpoesie

Jörg Piringer

// Rezension von Günter Vallaster

Seit Jahren ist der Sprach- und Medienkünstler Jörg Piringer, der auch Mitglied des Vienna Vegetable Orchestras und des Instituts für transakustische Forschung ist, mit seiner Sound Poetry sowie seiner visuellen, transmedialen und digitalen Poesie auf der ganzen Welt aktiv und präsent, wobei all diese Richtungen bei ihm ohnedies vielseitige Seiten einer Medaille sind: Jörg Piringer beschränkt sich in seinen Werken von Beginn an nicht darauf, bestehende Computerprogramme für die Kunst einfach anzuwenden, vielmehr versteht er es, Programme zu analysieren und selbst welche zu schreiben. Damit hat er nahezu weltweit ein Alleinstellungsmerkmal inne und zählt zu den bedeutendsten Exponent/innen der gegenwärtigen digitalen Poesie und Code Poetry.

Die Szene ist (noch) vergleichsweise klein, aber sehr aktiv und miteinander vernetzt, genannt seien exemplarisch noch Nick Montfort, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Digital Media lehrt, der Berliner Hannes Bajohr, der digitale Lyrik verfasst, in der Slowakei beschäftigen sich Zuzana Husárová und Richard Kitta mit elektronischer Literatur. Jörg Piringer hat bereits ein umfangreiches Werk vorzuweisen, das bislang – neben zahlreichen Veröffentlichungen in internationalen Literaturmagazinen und Anthologien – naheliegenderweise hauptsächlich auf Internetplattformen zugänglich ist: Vom ihm kreierte Apps wie die Gravity Clock stehen mit weiterer vom ihm entwickelter poetischer Software auf seiner Homepage http://joerg.piringer.net/ zum Download oder interaktiven Erproben bereit. Nicht zuletzt ist für ihn auch die öffentliche Vermittlung seiner Arbeiten von eminenter Bedeutung, sei es durch Ausstellungen, künstlerische Zusammenarbeiten oder sound- und visuell-poetische Performances, die die Grenzen zwischen Sprache, bildender Kunst und Musik produktiv aufheben und in der konventionellen menschlichen oder maschinellen Sprache gemeinhin Verborgenes auf eindrucksvolle Weise zum Vorschein bringen lassen. Jörg Piringers Arbeiten präsentieren nicht nur die Möglichkeiten von digitaler Poesie, sie üben auch fundierte Kritik am Umgang der Gesellschaft mit digitalen Medien, an den Algorithmen, Manipulationen, Datenakkumulationen und Robotisierungen.

Es ist ein Verdienst des Ritter-Verlags, dass eine an die 300 Seite starke Auswahl aus Jörg Piringers Werken nun auch in Buchform mit dem programmatischen Titel datenpoesie vorliegt. Digitale Poesie in einem Buch? Warum nicht: Nicht nur, weil ein Buch nach wie vor schneller geöffnet werden kann als manches Computerprogramm und digitale Poesie wie jede andere Poesie auch das bedruckte Papier als Medium für sich beanspruchen darf, vor allem zeigen sich in Buchform sehr schön die neuen ästhetischen, visuellen und partiturenartig sogar die auditiven Räume, die Jörg Piringer mit seinem Zugang erschließt und auch, dass Texte, die teilweise oder zur Gänze von Programmen und Maschinen geschrieben sind, wie Texte, die von Menschen verfasst wurden, funktionieren können, was wiederum interessante Schlaglichter auf rein menschliche Schreibverfahren wirft. Etwa auf Reime, ob Anfangs-, Binnen- oder End-, die ursprünglich als mnemotechnische Merkhilfen für den mündlichen Vortrag längerer epischer Werke in die Literaturgeschichte Einzug hielten: Wie die zahlreichen schon länger bestehenden Online-Anagrammgeneratoren belegen, findet ein fundiert geschriebenes Programm rein quantitativ mehr als ein Mensch und kann aus einer Datenbank nach unterschiedlichen vom Autor kreativ gefundenen Kriterien eine Vielzahl an Wörtern, die diese Kriterien erfüllen, extrahieren. Und viele davon sind dann auch sehr überraschend, wie beispielsweise Wörter, die mit sie- und er- beginnen, zu einem Listengedicht angeordnet: „sieben und erben / siebend und erbend / siebt und erbt (…)“ (S. 23).

Dieses gleichsam systematische Dichten und reihenhafte Schreiben ist nur ein innovativer Aspekt des randvoll mit unterschiedlichsten poetischen Texten angefüllten Bandes, der in fünf Großkapitel oder Zyklen gegliedert ist: „vers“, „frage und antwort“, „suchtext“, „fließtext“ und „anordnung“. Dazwischen und am Beginn immer wieder visuelle Poesie, die durch die Computergenerierung neue Bildsetzungen zutage bringt, indem etwa in „spuren“ (S. 39) Bewegungen eines Vogelschwarms simuliert werden. Das Buch wird eröffnet mit einer Art kosmischen Expansion des Alphabets aus einem Urklecks oder Urpunkt, jedenfalls einer Singularität, aus der sich Buchstabenreihen spiralförmig ausweiten und verdichten. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind maschinelle Übersetzungen verschiedenster Art, aus einer Sprache in viele weitere, wobei Fehlübersetzungen durchaus als Stilmittel einkalkuliert werden, wie in „übersetzungen“ (S. 50 – 57), in dem ein deutscher Text, nämlich die erste Strophe aus dem Abendlied von Matthias Claudius („der mond ist aufgegangen“) in 82 sprachen übersetzt und transformiert wird, um am Ende wieder ins Deutsche übersetzt zu werden. Oder Über- und Ersetzungen von Bild zu Text wie in „selbstporträt“ (S. 135), in dem Farbwerte eines Portraitfotos durch die Farbnamen („kadettenblau“) bzw. deren Anfangsbuchstaben ersetzt werden, wie in den sehr informativen „erklärungen und kommentaren“ (S. 274 ff.) ausgeführt wird. „verfall“ (S. 236 – 243) ist eine 99fache Text-Bild-Text-Umwandlung, basierend auf einem Programm der US-amerikanischen Künstlerin Mouse Reeve. Der Aspekt der Verschlüsselung und Entschlüsselung wird ebenfalls oft poetisch untersucht, so in „fuck the überwachungsstaat“ (S. 265), der ein nach derzeitigem Stand der Technik völlig unentschlüsselbarer Text ist. Überaus spannend ist auch der Aspekt der neuronalen Poesie, bei der ein künstliches neuronales Netz „mit einer auswahl der angeblich besten deutschen Gedichte trainiert wird“ (S. 278). Daraus entstanden Verse bzw. klangmalerische Versverzerrungen wie „ich nut dich weinen der lieden / und eine schleinen sleun, / die lied in wang sich der tranen grüben gehen?“ (S. 78), deren maschinenerzeugte Pathetik und Überaffirmation die Ausgangsverse gleichsam ironisieren. Es soll hier auch nicht unerwähnt bleiben, dass das Buch großteils nicht auf Deutsch, „sondern in programmiersprachen wie C++, Lua, Objective C, LISP, Python, Clojure, Prolog und Haskell“ verfasst wurde (S. 272).

Mit datenpoesie legt Jörg Piringer einen für Mensch und Maschine spannend zu lesenden und poetisch anregenden Band vor, der als ein Grundlagenwerk zur digitalen Poesie betrachtet werden kann, in dem Verfahrensweisen der modernen, besonders experimentellen Literatur weitere Richtungen gegeben und auf ein neues Level gehievt werden, Dada 2.0 sozusagen. Wobei experimentell durchaus im naturwissenschaftlich-technischen Sinne verstanden werden kann, oder wie Jörg Piringer in seinen Anmerkungen zur Arbeitsmethodik ausführt: „bei mehrmaligen wiederholungen aufgrund von gewünschten verbesserungen kamen dadurch für einen kurzen text mehrtägige rechen- und somit wartezeiten, bis das fertige resultat vorlag, zustande. eine solche arbeitsweise ähnelte stellenweise mehr dem züchten von pflanzen als dem verfassen von literatur: aussäen. warten. überraschende ergebnisse. erneute aussaat. warten. staunen …“ (S. 272 f.). Hier werden experimentelle Schreibzugänge, wie sie von Dada, Oulipo oder der konkreten und konzeptuellen Poesie entwickelt wurden, auf High-Tech-Niveau weitergedacht. Mit Dada verbindet der Zufall als ästhetischer Plan, mit Oulipo das Aufstellen und Hinterfragen von Regelwerken, mit der konkreten und konzeptuellen Poesie die Betrachtung der Sprache als Material, die Auslotung von mentalen Konzepten, also Begriffen sowie der Aspekt der seriellen Anordnung von Wortmaterial. Datendada vom Feinsten!

Jörg Piringer datenpoesie
Digitale Poesie.
Klagenfurt: Ritter, 2018.
287 S.; brosch.
ISBN 978-3-85415-583-6.

Rezension vom 29.10.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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