#Prosa

Das Wiener Dekameron

Christoph Braendle

// Rezension von Simon Leitner

Alles beginnt dort, wo eigentlich sonst viele Geschichten enden: Ein Feueralarm in einem Villen-Altenheim auf dem Wiener Rosenhügel sorgt dafür, dass sich alle Insassen – denn genau als solche fühlen sich die Bewohner – im Garten versammeln. Zehn sind es an der Zahl, sieben Damen und drei Herren, und ihnen allen ist neben dem Wohnsitz und dem Gefühl der Einsamkeit und Angst gemein, dass sie schon mit dem Leben abgeschlossen haben und nur noch auf den Tod zu warten scheinen.

Ein Zustand, den Dorothee, die älteste Bewohnerin des Heims, die selbst den Alarm ausgelöst hat, um ihre Leidensgenossen auf einen Schlag zu versammeln, nicht länger zu tolerieren gewillt ist. Trotz ihres hohen Alters verspüre sie noch immer so etwas wie Lebensfreude, erklärt sie den Versammelten, und sie habe nicht vor, still und leise in der Villa samt Gartenanlage dahinzuvegetieren. Deshalb schlägt sie ihren Mitbewohnern vor, sich in den nächsten zehn Tagen jeweils nach dem Mittagessen im nämlichen Garten zu treffen und Geschichten zu erzählen, „schöne, wilde, schlimme Geschichten […], in denen es um die Lust geht und um Leidenschaft, Verführung, Frivolitäten und Exzesse, um den Kampf der Geschlechter, um Siege und Niederlagen im Liebesspiel“. Jeder solle dabei zu Wort kommen, und jeder habe als sogenannter „Herrscher über einen Tag“ die Ehre und die Pflicht, sich ein Thema auszusuchen, zu dem die anderen Bewohner eine Geschichte erzählen müssten. Trotz allerlei Vorbehalten insbesondere ob der pikanten Natur solcher Geschichten stimmen die Damen und Herren zu und finden sich am nächsten Tag zeitig und etwas aufgeregt am vereinbarten Treffpunkt ein. Die Bewohner beginnen also zu erzählen, einer nach dem anderen, zehn Tage lang, jeder eine Geschichte pro Tag, dies ist zumindest der Plan.

So viel zur Rahmenhandlung von Christoph Braendles neuem Werk Das Wiener Dekameron, dessen Titel natürlich nicht nur mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl winkt, sondern einen geradezu damit erschlägt. Verweist er doch unverkennbar auf Boccaccios „Dekameron“, diese berühmte Sammlung von 100 Novellen, in der zehn Menschen in einem Landhaus auf der Flucht vor der in Florenz grassierenden Pest einander zehn Tage lang Geschichten um Liebe, Lust und Leidenschaft erzählen. Die Rahmenhandlung ist da wie dort eher nebensächlich und dient vor allem dazu, die Geschichten auf etwas elegantere Weise in einen Zusammenhang zu bringen.
Der Löwenanteil des Erzählten ist erotischer Natur, die Bandbreite reicht von der ersten Liebe und den ersten sinnlichen Abenteuern über mehr oder weniger konsequent gepflegte Affären und Seitensprünge bis hin zu Fällen von wahlweise offen zur Schau gestellten oder im Geheimen ausgelebten, mitunter als pervers angesehenen sexuellen Fantasien. Dies treibt den gespannt zuhörenden Bewohnern nicht nur einmal die Schamesröte ins Gesicht, wie etwa bei der Geschichte über eine Entjungferung auf einem durch das belebte Wien fahrenden Fiaker, und es gibt auch Tränen („Warum Blumen manchmal besser sind als Tattoos“).

Bei dieser Gelegenheit sollen auch die meist sehr originellen Überschriften erwähnt und gewürdigt werden, die trotz ihrer Kürze stets über eine simple Inhaltsangabe hinausgehen. Sie mögen in manchen Fällen banal anmuten, doch hat man erst einmal entdeckt, dass sich ihre Komplexität und Treffsicherheit erst im Verlauf der Lektüre erschließt, verführen sie immer wieder dazu, auch noch die nächste Geschichte zu lesen. Schließlich will man unbedingt wissen „Wie der Kannibalismus ins Kabarett kam“, „Was Hansis Gatte vom staatlich geförderten Swingerclub hielt“, „Was eine Schildkröte mit Dr. Freud und der Sexualforschung zu tun hat“ und wie das damals war, „Als Herbert in der Türkei zu viel Raki trank und anderes verschmähte“.

Es ist Braendle hoch anzurechnen, dass sich bei so vielen Geschichten nie so etwas wie Routine oder gar Langeweile einstellt, jede Erzählung hat (trotz unvermeidlicher, aber äußerst geringfügiger Qualitätsunterschiede und ebenso geringfügiger gelegentlicher Redundanzen) ihren eigenen Charakter und ihre Besonderheit. Dies liegt hauptsächlich daran, dass sie von so verschiedenen Personen vorgetragen werden, deren persönliche Lebensgeschichte sich auch in ihrer Sprache niederschlägt. Zudem werden aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Beteiligten, die zu bestimmten Zeiten bestimmte Medikamente zu nehmen haben und sich nicht mehr so lange konzentrieren können, nicht immer zehn, sondern meist weniger Geschichten pro Tag zu Gehör gebracht. Hier greift sozusagen doch die Rahmenhandlung in die Geschichten ein: Carl beispielsweise, ein etwas spießig wirkender ehemaliger Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Wien, verfällt gelegentlich in einen didaktischen Duktus und droht des öfteren, sich in rechtlichen Details zu verlieren, während bei den Vorträgen seiner einstigen und ihm offenbar noch immer hörigen Sekretärin Elsa, die trotz ihres ungleich niedrigeren Alters von 54 Jahren ebenfalls in der herrschaftlichen Villa am Rosenhügel lebt, immer eine gewisse Unsicherheit und Schüchternheit zu spüren ist. Die eine wiederum spricht in kurzen und klaren Sätzen, der andere hingegen geht sprichwörtlich auf beim Erzählen, und wieder eine andere Bewohnerin tut sich ihrem Alter gemäß manchmal schwer, sich an die richtigen Wörter und Namen zu erinnern. Jeder Bewohner hat also seinen eigenen Sprach- und Erzählstil, dennoch wirken alle Geschichten wie locker aus dem Handgelenk geschüttelt, sie erstrecken sich meist nur über wenige Seiten und sind trotz der eben angesprochenen sprachlichen Unterschiede einfach und nüchtern erzählt (was in gewissem Widerspruch zu jenen Ausschweifungen steht, über die sie Auskunft geben).

Nicht zuletzt ist Das Wiener Dekameron, und auch darauf weist der Titel schon unmissverständlich hin, ein Buch über Wien, über die Stadt wie auch ihre Bewohner. Viele Begebenheiten finden an mehr oder weniger bekannten Orten wie der Seccession oder – natürlich! – dem Prater statt, und wenn man gut aufpasst, kann man mitunter sogar historische oder tatsächlich existierende Personen als Vorbilder der auftretenden Figuren ausmachen – wie etwa im Falle des einstigen Schweinehirten und Kaffeesieders, der später zum Liebling der Wiener Schickeria und schließlich zum sechsfachen Mörder wurde und als aussagekräftiges Beispiel dafür gilt, dass die österreichische Hauptstadt schon immer „eine auffällige Anfälligkeit für Hochstapler“ hatte. Doch die meisten Wiener Eigenheiten, die in Braendles Novellensammlung Erwähnung finden, sind eher harmloser Natur und legen die Vermutung nahe, dass Georg Kreisler im Unrecht lag und Wien ohne Wiener um ein entscheidendes Stück langweiliger wäre.

Christoph Braendle Das Wiener Dekameron
Erzählungen.
Wien: Metroverlag, 2011.
320 S.; geb.
ISBN 978-3-99300-061-5.

Rezension vom 20.12.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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