#Essay

Das war Österreich

Robert Menasse

// Rezension von Walter Fanta

Die Schwächen dieses Buchs sind rasch aufgezählt: Die Texte, die es enthält, sind nicht neu. Die Grundthese, die es verficht, hat nicht Robert Menasse erfunden. Und er scheint es in der Rolle als Essayist mit der so genannten Faktizität nicht immer so genau zu nehmen. – So schwerwiegend solche Einwände klingen mögen, so sollten sie doch niemanden davon abhalten, sich Menasses gesammelte Österreich-Essays zu erwerben und darin zu lesen, denn der Genuss wiegt den Ärger bei weitem auf. Die paradoxe Wertschätzung, die dieses Buch verdient, qualifiziert es sogar für Höheres (dazu am Schluss der Besprechung)!

Gehen wir von den vermeintlichen Schwächen aus: Was aus Robert Menasses Feder hier gesammelt vorliegt, haben wir ohne Ausnahme alles bereits lesen dürfen, im Zeitungsfeuilleton und in kleineren Bändchen weniger prominenter, aber dafür heimischer Verlage (Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik, 1990; Das Land ohne Eigenschaften, 1992; Phänomenologie der Entgeisterung, 1995; Dummheit ist machbar, 1999; Erklär mir Österreich, 2000). Warum jetzt alles noch einmal, wozu diese Verdoppelung? Hat es Menasse notwendig, unter die Mehrfachverwerter zu gehen? Überschätzt er sich nicht, wenn er sich schon herausgeben lässt? Doch was immer die Beweggründe waren, der Nachdruck der Menasseschen Österreich-Essays bei Suhrkamp ist gerechtfertigt. Erst bei der chronologischen Re-Lektüre prägt sich die Chronologie der Österreichbild-Demontage so recht ein, die 1990 eingesetzt hatte und sich besonders seit 2000 vollzieht; Menasses Texte aus den neunziger Jahren, damals Reflex auf das unmittelbar Aktuelle, gewinnen eine prophetische Dimension. Es drängt sich die Einsicht auf, es habe sich alles bewahrheitet, allein durch den Kunstgriff des gesammelten Neuabdrucks.

Österreich als Staat sei ein Sonderfall, behauptet Menasse, weil in ihm politische, ökonomische und gesellschaftliche Gegensätze zu einem ‚Entweder und Oder‘ aufgehoben seien. Abgesehen vom Stichwortgeber Robert Musil (der in seinem Essay ‚Politik in Österreich‘ die Aufhebung der Gegensätze übrigens schon 1912 beschrieben hat) und dem prototypischen literaturgeschichtlichen Befund des Triestiner Germanisten Claudio Magris (‚der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur‘, deutsch 1966) sind es die Essays von Josef Haslinger (‚Politik der Gefühle‘, 1987) und Franz Schuh, welche die Konstrukte, auf denen die österreichische Politik beruht, bereits vor Robert Menasse essayistisch ausgeleuchtet, die Kritik der österreichischen Sozialpartnerschaft vorweg genommen und die Gründungsmythen der zweiten Republik essayistisch dekonstruiert haben. Ist Menasse damit als Eklektiker überführt und erledigt? Wir behaupten: nein!

Womit Menasse punktet und womit ihm der Vorrang vor dem am hohen Ross des Intellektuellen reitenden Franz Schuh gebührt, ist die Erzählseligkeit und Detailverliebtheit, mit der Menasse das Theorem ’sozialpartnerschaftliche Ästhetik‘ zu einem Großnarrativ verwandelt. Menasses Essays haben erzählerische Brillanz, sie bestechen durch ihre unprätentiöse Anschaulichkeit. Die kleinen, oft anekdotisch anmutenden Exempla haben es in sich. Besonders gelungen sind die Porträts aus dem literarischen Leben der zweiten Republik, von Autoren wie Gerhard Fritsch oder Hermann Schürrer. Hier schöpft Menasse aus seiner Kenntnis ihrer Texte, um den literarischen Diskurs der Nachkriegszeit in seiner Stellvertreter-Funktion für den politischen Diskurs zu skizzieren. Wieder erweist sich die Gesamtausgabe als Vorteil, aus den Einzelbeobachtungen in den einzelnen Essays treten die Linien bei der Gesamtlektüre klarer hervor.

Wenn eingangs festgestellt wurde, Menasse nehme es in seinen Essays mit den Fakten nicht so genau, dann heißt dies nicht, dass das Buch falsche Fakten enthalte oder dass die Argumentation nicht ausreichend auf Fakten gestützt wäre. Im Gegenteil, die Essays sind mit geschichtlichem, sozialem und politischem Wissen gesättigt. Dennoch argumentiert Menasse nicht wie ein Historiker, Soziologe oder Politikwissenschaftler. Er greift zwar dauernd in das Wissensarsenal der Zeitgeschichte oder der soziologischen Theorie, aber was er herausgreift, interpretiert er beim Herausgreifen schon und setzt das Faktum plus Interpretation als Beispiel in seine Behauptungsstruktur ein. Es geht dabei oft um Dinge, über die es in den zuständigen Expertenzirkeln noch längst nicht entschiedene Diskussionen geben mag; für Menasse aber haben sie stets schon eine eindeutige Aussage. Sich darüber bei einem Essayisten zu beschweren, ist aber mit Sicherheit ein Fehler, denn ein Essay ist eben kein Traktat.

Wohin die Behauptungsstruktur von Menasses Essays führt, wird besonders an der Grundthese des ganzen Buchs deutlich, dass Österreich ein Sonderfall sei: die weltweit einzige Nation, die sich in einem Willensakt konstituiert habe; der einzige Staat der Welt mit einem formal parlamentarischen System, in dem die Entscheidungen nicht im Parlament fallen (sondern in der informellen Schattenregierung der Sozialpartner). Möglicherweise ist es mit der Einzigartigkeit Österreichs nicht so weit her, jede Nation ist zu einem bestimmten Teil ein Selbstkonstrukt, überall in demokratischen Systemen gibt es Oligarchien, die zum Teil kräftig mitregieren. Eines der rhetorischen Prinzipen, nach denen Robert Menasses Essays funktionieren, ist also das der Übertreibung. Übertreibung und Zuspitzung sind es neben den anderen, bereits angeführten Vorzügen auch, die die Lektüre zum Vergnügen machen (siehe unsere Leseprobe!).

Aber wo bleibt die Wahrheit? Sie bleibt naturgemäß auf der Strecke. Robert Menasse ist selbst ein Teil des Phänomens, das er beschreibt. Mit seiner Hochrechung Österreichs zum weltweiten Ausnahmefall wirkt er entschieden am Weiterweben des österreichischen Mythos mit. Der Prozess der Aufklärung und Politisierung, den Menasse in seinen Essays eingefordert hat und den er seit Ende der neunziger Jahre tatsächlich eintreten sieht – deswegen der Titel Das war Österreich – dürfte weniger weit gediehen sein als der Essayist annimmt. Menasses Österreich-Essays haben entschieden eine patriotische Tendenz. Sie stehen natürlich in der Tradition der Österreich-Verklärung aus dem Negativen, der ironischen Überzeichnung der Widersprüche und Aporien. Menasse macht mit der zweiten Republik das, was Musil mit seinem ‚Kakanien‘ aus der Monarchie gemacht hat. Stellt man neben dem patriotischen Charakter der Österreich-Essays auch in Rechnung, dass dem in ihnen zur Anwendung kommenden Prinzip der Übertreibung und Zuspitzung auch etwas eminent Didaktisches inne wohnt, so liegt es nicht mehr ferne, Das war Österreich als Pflichtlektüre für österreichische Schüler und Schülerinnen vorzuschlagen. Man möge das Buch als ‚Lesebuch‘ für den Unterricht an den Höheren Schulen approbieren.

Robert Menasse Das war Österreich
Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften.
Hg.: Eva Schörkhuber.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.
460 S.; brosch.
ISBN 3-518-45691-1.

Rezension vom 28.09.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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