Wie eine augenzwinkernde Selbstkritik des Autors Hans Adler wirkt diese Passage, wie eine ironische Beschreibung des vom Autor eingesetzten Erzählers. Sie ist der optisch sehr ansprechend gestalteten Neuauflage von Hans Adlers Roman Das Städtchen entnommen, mit welcher der Verlag Lilienfeld eine unglaublich erfreuliche literarische Wiederentdeckung liefert. Erzählt werden darin menschliche Tragödien und Komödien, Geschichten rund um die Figur Titus Quitek, einen gescheiterten Maler, der in einem österreichischen Provinzkaff zu Zeiten der Habsburger Monarchie als Zeichenlehrer über die Runden kommt. Der Roman setzt mit dem Besuch von dessen Jugendfreund Herr von Seylatz ein, der in dieses österreichische Städtchen eher unfreiwillig versetzt wurde, wo er eine Zwischenstufe in seiner Beamtenkarriere absitzen soll, auch er neben dem Beamtendasein eigentlich ein „Dichter“.
Was man von solchen Künstlermenschen in dem Städtchen hält wird in zahlreichen gelungenen humoristischen Passagen des Romans rasch klar: sehr wenig. Und auch allgemein scheinen sich in dieser kleinen Welt Romantik, Kunst oder Sensibilität nicht zu empfehlen: Der abgeklärte pragmatische Bürgermeister, der seine Sekretärinnen regelmäßig sexuell missbraucht, um diese, wenn sie schwanger werden, rasch zu kündigen und mit einer Abfindung für die Abtreibung los zu werden, meint über seine Tochter: „Nichts wie Träumereien und Gefühl. Romanlesen und Gesangsstunden. Dummheiten. Damit erreicht man nichts im Leben. Seine Ellbogen muss man frühzeitig gebrauchen lernen.“ (S. 139)
Bitterböse und nachsichtig zugleich führt die ironische auktoriale Erzählerstimme durch die Geschehnisse des Romans und entwirft Innen- und Außensichten naiver, verdorbener, abgebrühter, hinterhältiger, hilfloser, verzweifelter, rachsüchtiger und sehnsüchtiger Kleinbürger und Kleinbürgerinnen. Moralisch verfügt das Personal des Romans nicht gerade über große Vorbildwirkung. Vom Bürgermeister zur Prostituierten, vom Künstlerseelentum zur berechnenden Puffmütterlichkeit: die Gemeinsamkeiten der Figuren bleiben der Wunsch nach Erfolg, Anerkennung, Reichtum – gegen alle Widerstände. Das ungehemmte Ausleben der Leidenschaften oder die Erfüllung romantischer Sehnsüchte werden gleichermaßen mit zärtlicher Ironie als Wunschphantasmen der Figuren skizziert. Die männliche erotische Gier weicht ebenso wenig vor der Zerstörung junger naiver Kleinstadtmädchen zurück wie die Kaltblütigkeit einer Puffmutter. Frauen sind ein „legitimer und dankbarer Zeitvertreib“ (S.81). Dennoch werden die Figuren nicht verurteilt. Bitterböse, aber niemals moralisierend werden die Charaktere gezeichnet: „Der Realschuldirektor verzog schmerzlich das Gesicht. ‚Die allgemeine Moral nimmt ab‘, konstatierte er gereizt. ‚Leider, leider‘ gab Menotti zu. ‚Jetzt müsste man jung sein und nicht verheiratet.“ (S. 131)
Topografisches Zentrum der Stadt ist neben dem Wirtshaus und dem Bordell vor allem das Stadttheater. Dieses wird mit seinem provinziellen Programm und seinen provinziellen Schauspielern und Schauspielerinnen von der Bevölkerung abgefeiert und ist neben dem Bordell das einzige „Haus“, in dem Frauen ihre begrenzten Machträume und Mädchenträume ausloten und ausleben können. Schon zu Beginn des Romans wird der Provinzcharakter des Stadttheaters mit wenigen Sätzen humorvoll unterstrichen: „Überhaupt eine treffliche Einführung, im Anfang der Saison die Klassiker zu Worte kommen zu lassen… Man lernte Personal und Publikum kennen und sparte an Tantiemen.“ (S. 7)
Adler entwirft ein breitgefächertes Panorama von Glücks- und Unglückserlebnissen aller Schichten, unterhält seine Leser und Leserinnen damit glorreich und hält ihnen gleichzeitig gnadenlos einen Spiegel vor Augen: das österreichische Provinznest als Knotenpunkt allzu menschlicher Eigenschaften, das sein Roman scheinbar nebenbei und operettenhaft inszeniert, ist zwar eines aus dem Jahre 1926, die es bevölkernden Charaktere aber sind so universal wie nur möglich. Das Lachen bleibt trotzdem nicht im Halse stecken, wenn man bei der Beschreibung eines im Stadttheater aufgeführten Stückes an so manche österreichische Theaterinszenierung der Gegenwart erinnert scheint: „Ein Stück mit bedeutenden szenischen Effekten aller Art. Sturm und Mondschein. Flötenspiel hinter der Kulisse. Auch der nächtliche Schrei des Totenvogels in der Friedhofsszene war seine Sache.“ (S. 132)