#Prosa

Das Spiel von der Einverleibung

Natascha Gangl

// Rezension von Marcus Neuert

Die europäisch geprägte Kulturwelt hatte zu Anfang des Jahres allerlei große Geburts- und Todestage im Blick, allen voran die Beethoven- und Hölderlin-Jubiläen. Literarisch standen vielleicht noch Bukowskis 100. Geburtstag und Celans (1920 – 1970) Doppeljubiläum auf der Agenda. Dann wirbelte Corona vorerst einmal alle Pläne über den Haufen. Dass vor 50 Jahren mit Unica Zürn auch eine der großen, unterschätzten Poetinnen und Zeichnerinnen deutscher Sprache durch eigene Hand aus dem Leben schied, deren Leben und Werk bis heute nur sehr am Rande wahrgenommen wird, drohte dabei vollends unter die Räder der Ereignisse zu geraten.

Umso erfreulicher ist es daher, dass die 1986 in Bad Radkersburg geborene und heute abwechselnd in Österreich und in Mexiko lebende Autorin Natascha Gangl sich in ihrem neuesten Buch intensiv mit dieser außerordentlichen Künstlerinnenpersönlichkeit beschäftigt: Das Spiel von der Einverleibung – Frei nach Unica Zürn ist das Ergebnis eines nicht gerade alltäglichen Projektes.

Natascha Gangl hat sich auch bereits in der Vergangenheit mit der Person und dem Wirken Zürns befasst. So gestaltete sie bereits im Oktober 2017 ein Theaterevent aus Texten, Figuren und Klanginstallationen mit, das unter dem Titel „Orakel und Spektakel. Ein Fest für Unica Zürn“ im Kabinetttheater Wien uraufgeführt wurde und dort im kommenden Herbst wieder aufgenommen werden soll. Dazu hat die vielseitige Autorin, die in Wien und Graz Philosophie und szenisches Schreiben studiert hat und zeitweise Assistentin und Textbearbeiterin für Christoph Schlingensief war, noch ein weiteres Stück mit erarbeitet, welches als „Live-Klangcomic“ eine fiktive Superheldinnen-Biografie für Unica Zürn auf die Bühne bringt. So entsteht für das Todesjahr-Jubiläum ein schräger Akkord aus Text-, Klang- und Bild-Performance, der dazu geeignet sein könnte, diese „Ikone des Surrealismus“ (Klappentext) endlich einmal gebührend ins öffentliche Kulturbewusstsein zu bringen.

Dem Buch kommt dabei die Rolle eines Erdungspunkts für den Projekt-Trilog zu. In Das Spiel von der Einverleibung wird dem Publikum nämlich nicht zuletzt auch eine Arbeitsweise aktuellen surrealen Kunstschaffens vorgestellt, was durchaus als rezeptiver Leitfaden für die beiden Bühnenstücke verstanden werden kann. Gangl, die Zürn als ihre „mentale Patin und Großmutter im Worte“ bezeichnet, verlässt sich dabei natürlich nicht nur auf den geschriebenen Text, sondern stellt mit ihrem Projektpartner Toño Camuñas, der die Bilder beisteuerte, auch die Zeichnerin Unica Zürn mit ins Rampenlicht. Camuñas, ein bildender Künstler aus Spanien, der in Mexiko lebt, verbindet zahlreiche Einflüsse vom Madonnenbild über Pin-Ups und interkulturelle Totenkult-Motivik bis hin zu tattoo-artigen Zitaten und reichert diese ohnehin schon skurril anmutende Collage mit semiotischen und skriptoralen Elementen zu einer kraftvollen eklektischen Melange an, die eine unmittelbare visuelle Beziehung zum Publikum aufzubauen versteht. Die Bilder sind doppelseitig in Farbe zwischen die jeweiligen Kapitel gesetzt und komplementieren den Text auf sehr eigenwillige Weise.

Gangl webt eigene Textpassagen mit solchen von Zürn auf spielerische Weise ineinander, wobei die Zitate stets durch Einrückung und Schriftwechsel erkennbar bleiben und durch Fußnoten und Siglen sogar auf die jeweiligen Werke Unica Zürns verweisen. Konsequent zum gewählten Titel beginnt das Buch mit „Spielregeln“, die Aufschluss über die Entstehensweise des Projektes geben und gleichzeitig das Lesepublikum einbinden:

„7. Die Leser*innen dieses Buches haben die Buchstaben von A und B zu observieren und mit den Zeichnungen von C gegenzulesen, zusätzliche Punkte werden an Leser*innen vergeben, die an die beschriebenen Orte reisen und sich selbst ein Bild machen.“

A, B und C stehen hier für Zürn, Gangl und Camuñas. Insgesamt neun Spielregeln schickt Gangl dem Text voraus, die Zahlen eins bis neun spielen im Verlauf des Spieles eine unterschwellige Rolle: sie finden sich etwa auf den neun [!] Seiten des zu benutzenden Würfels wieder und stehen laut Definition für Einsamkeit, Paarbeziehung, Kinder, Familie, Geheimgesellschaften, Tod, Unglück, Ewigkeit und Leben. Diese symbolhaften Grundbedeutungen tauchen in den siebzehn Kapiteln des „Hauptspiels“, in denen Gangl die Lebensstationen Zürns nacheinander aufsucht, immer wieder auf und werden in vielfältige Beziehungen zueinander gesetzt:

„Dass das eine Botschaft ist, ist sicher. Der Hauseingang, ein sicheres Stück von der Pforte des Zaunes entfernt. Auf einem schmiedeeisernen Balkongeländer wartet ein Wappen. Unentzifferbar, für kurzsichtige Augen. Auf schwarzer Tafel prangt eine riesige weiße Fünf, die Zahl der Geheimgesellschaften.“

Gangl schafft dem Lesepublikum zunächst einen Zugang zu Zürns lyrischer Arbeitsweise, von einem Zitat oder einer Redensart ausgehend anagrammatische Gedichte zu verfassen, zum „Lesen als surreale[r] Erfahrung“, in der Text zum Wechselspiel zwischen Sinn-, Zeichen- und Klanghaftigkeit wird:

„Liest du ständig denselben Text? Wiederholt sich das nicht permanent? Soll das gar kein Text sein? Ist das eine Zeichnung? Liest du Zeichnungen? Betrachtest du sie? Hörst du etwas? Ist das Musik?“

Gangl unternimmt Reisen in die Vergangenheit, sucht in der Gegenwart Spuren Unica Zürns an den zentralen Orten ihres Lebens. Das Ergebnis kann und will freilich keine Biografie im landläufigen Sinne sein, eher eine Art empathisches Nachspüren der literarischen und grafischen Fiktionen und der dahinter stehenden Person der Surrealistin. Sie beginnt mit einer genauen Einfühlung in Zürns Kindheit in Grunewald, hangelt sich anhand der stark autobiografisch geprägten Prosa Zürns über Stationen im Berlin der Vor- und Nachkriegszeit zur wichtigen Begegnung mit dem Maler und Lebensgefährten Hans Bellmer, dem sie in den 1950er Jahren nach Paris folgt. Immer wieder gibt es Rekurse auf die in Unica Zürns Werken aufgeworfenen Zitate, Natascha Gangl tritt gewissermaßen mit ihren genauen Situationsbeschreibungen des Hier und Jetzt in einen Dialog mit den Jahrzehnte älteren Texten, die wie in Schnipseln und kontextuell losgelöst plötzlich, dem Spiel der Einverleibung folgend, in ganz neuem Licht erscheinen. Aber welcher Text eignet sich welchen eigentlich an bei diesem Spiel? Das ist nie gänzlich ausgemacht und erhöht den Reiz dieses schriftstellerischen Experiments ungemein: Weder verschwindet das Werk Gangls hinter dem Zürns noch umgekehrt. Vielmehr positionieren sich beide immer wieder neu, gleiten vielfältig in- und auseinander, intensiver noch, wenn die Zeit von Zürns schizophrenen Episoden ab Anfang der 1960er Jahre als Bezugsgrundlage ins Spiel kommt, die schließlich auch wohl mit zu ihrem Selbstmord führten. So spürt Natascha Gangl etwa Zürns Klinikaufenthalt in La Rochelle kurz vor ihrem Tode nach, anagrammiert dort selbst an einer Bushaltestelle mit den ausgeschnittenen Buchstaben der Worte „BIST DU WAHNSINNIG“ und wird dabei von immer mehr Menschen offenbar misstrauisch beobachtet:

„Ist eine Person, die wild notierend und Buchstaben hin und her schiebend vor einer Anstalt sitzt, verdächtig? Einer Geschichte verdächtig, und glauben starrende Augen, dass die Geschichte ablesbar wäre aus einer Geste?“

Auf diese Weise amalgamieren sich nicht nur Text und Bild, sondern ein Stück weit auch die Persönlichkeiten der Dichterinnen. Es gehört wohl eine gute seelische und geistige Konstitution dazu, aus einem solch anstrengenden Experiment gewissermaßen „unbeschadet“ wieder auftauchen zu können. Natascha Gangl, und mit ihr in kongenialer Bildsprache Toño Camuñas, gelingt mit Das Spiel von der Einverleibung nicht nur eine bemerkenswerte kulturelle Collage, sondern so etwas wie ein atmendes Denkmal für die große Surrealistin Unica Zürn.

Natascha Gangl Das Spiel von der Einverleibung
Textcollagen.
Fürth: starfruit publications, 2020.
232 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 978-3-922895-37.

Rezension vom 09.04.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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