#Prosa

Das sich selbst lesende Buch

Ilse Kilic

// Rezension von Günter Vallaster

Was kann man sich unter einem sich selbst lesenden Buch vorstellen? Ein Buch, das noch von niemandem gelesen worden ist, möglicherweise sogar seit Jahrhunderten in Papierbögen gehüllt auf den Buchschnitt wartet? Ein soziales Netzwerk im Internet wie Facebook, an dem viele Menschen mitschreiben und mitlesen, sodass ein riesiges sich selbst lesendes Buch entsteht? Ilse Kilic gibt im vorliegenden Band eine ihrem literarisch avancierten Anspruch gemäße literarisch avancierte Antwort: Ein Buch, in dem das Medium Buch reflektiert wird, mit Texten, die alle möglichen Genres, vom Roman über den Essay bis zum Märchen hinterfragen und kreativ-witzig forscherisch ausleuchten und sich nicht zuletzt für die Emanzipation der Romanfiguren einsetzen, sie von der Willkürherrschaft des Autors, der Autorin befreien und mit Rechten, Dienstvertrag und Urlaubsanspruch ausstatten.

Damit präsentiert sich Das sich selbst lesende Buch als originelle Fortsetzung des wohl weltweit einzigartigen innovativen romanreflexiven Romanprojektes von Ilse Kilic, das schon einige Bände im verdienstvollen Ritter-Verlag umfasst: „Vom Umgang mit den Personen. Eine Schöpfungsgeschichte“ (2005), „Das Wort als schöne Kunst betrachtet“ (2008), „Buch über Viel“ (2011) und „Wie der Kummer in die Welt kam“ (2013). Mit der essigkruggeborenen Figur Solo (AutorIn des Buches Solo) aus „Vom Umgang mit Personen“ und der Privatgelehrten Mimi La Whipp aus „Wie der Kummer in die Welt kam“ tauchen auch bekannte Figuren wieder auf, dazu gesellen sich Zweck (Wettermanipulator), Frau Rose („die mit dem Regen geht“), und E (heimliche Zwillingsschwester der Autorin, damit auch ein Echo auf Ilse Kilics Buch „Die Rückkehr der heimlichen Zwei“, erschienen 2000 im Ritter-Verlag), die gemeinsam eine Petition an die Autorin zur Verbesserung ihrer Lage unterzeichnen (29, siehe Leseprobe). Eine tragende Rolle spielt auch Konrad Berger, gewissermaßen der Zwillingsbruder von Ilse Kilics Lebens- und Kunstgefährten Fritz Widhalm, der mit Monika Mondschein, einer weiteren Zwillingsschwester der Autorin, in Beziehung tritt. Analog zu einem Spiegelkabinett wird die fröhliche Figurenversammlung als „Romanfigurenkabinett“ (37) bezeichnet.

Im „sich selbst lesenden Buch“ wird das Buch als Boot betrachtet, weniger als „Rettungsboot“ (13), vielmehr wird ein dunkler Raum unter Deck betreten, womit Assoziationen mit dem biblischen Jona im Bauch des Wales oder einer Sklavengaleere entstehen. Ein Ort jedenfalls, an dem die Figuren mehr wie Gefangene erscheinen und sich wie im bekannten platonischen Höhlengleichnis fragen, wie die Welt da draußen wohl ist, vor allem die Welt des Autors, der Autorin, die als fast allwissende und damit auch fast allmächtige Figur mit an Bord ist und sich gelegentlich „in eigener Sache“ (30) zu Wort meldet. Dadurch wird ein paradoxer und auch ungerechter Aspekt von Büchern, besonders Werken der fiktionalen Literatur, plastisch vor Augen geführt: Die Figuren können aus Sicht des Autors, der Autorin beim Gestalten sowie des Lesers, der Leserin beim Lesen nie zur Gänze sichtbar sein – solange das Buch geschlossen ist, sind sie komplett unsichtbar. Aus Sicht der Figuren sind Autor oder Autorin sowie Leser und Leserin wiederum stets unsichtbar. Zur Veranschaulichung dieses Umstands wird im „sich selbst lesenden Buch“ das wunderbarliche Vogelnest von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ins Buch getragen (14); das Vogelnest, das den Besitzer unsichtbar macht. Wie die Figuren damit umgehen und ob sie sich dazu entschließen, letztlich selbst Autorin zu werden („Fünf Personen werden eine Autorin“, 61) und was sie sonst noch an Entwicklungen und Verwicklungen, Verwandlungen, Verbandelungen und Verstrickungen erleben, sei an dieser Stelle nicht verraten, es sei nur nachdrücklich darauf hingeweisen, dass die Art und Weise, wie Ilse Kilic all dies darstellt, das Boot als sehr vergnüglich zu erkundende literarische Insel erscheinen lässt.

Eine Insel, deren poetische Fauna und Flora sich nicht zuletzt aus zahlreichen Verweisen auf andere Bücher und Buchprojekte speist, vor allem auf Projekte mit Fritz Widhalm, sodass sich Ilse Kilics literarische Werke als polylogische poetische Diasysteme präsentieren, als Bücher, die Bücher lesen und von Büchern gelesen werden. Gewissermaßen wie ein Zwillingsprojekt zu Ilse Kilics Figurenverwicklungsroman wirkt vor diesem Hintergrund der gemeinsam von Ilse Kilic und Fritz Widhalm verfasste und seit 1999 biennal erscheinende autobiografische „Verwicklungsroman“, in dem sich die Autorin und der Autor als Figuren Jana Brenessel und I.G.Naz setzen, mit ihnen wechselweise auftreten und in Dialog treten. Abwechselnd wird darin zwischen Vergangenheit und der jeweiligen Gegenwart oszilliert, von der Kindheit und Jugend bis zur Zeit, als sich Ilse Kilic und Fritz Widhalm kennenlernten und das Kunst-Rundumprojekt „Das fröhliche Wohnzimmer“ gründeten, und den Ereignissen beim Verfassen des jeweiligen Bandes des Verwicklungsromans. 2017 liegt der zehnte Jubiläumsband mit dem Titel „Hallo Hallo die Hutschnur steigt“ in der Wiener edition ch vor. Zumal im Verwicklungsroman auch zahlreiche reale Personen aus dem Umfeld von Ilse Kilic und Fritz Widhalm auftreten, darunter viele weitere Autorinnen und Autoren, könnte er auch als „fröhliches Wohnzimmer“ im Buchform gesehen werden, als buntes Boot, das den wohnzimmeristischen Kreativkosmos dokumentiert. Betreten werden kann er seit 2006 auch direkt in der Wohnzimmergalerie mit Glücksschweinmuseum (Florianigasse 54, 1080 Wien, Öffnungszeiten: Di, Do, Fr 15.00 – 18.30 Uhr), wo Glücksschweinchen aus aller Damen und Herren Länder betrachtet und wunderbare Bilder und Bücher erworben werden können. In der Wohnzimmergalerie liegt auch ein Gästebuch auf und im zehnten Teil des Verwicklungsromans sind sehr schöne Einträge von Chie Manabe, Rudolf Lasselsberger, Stanislaus Aladin Fartacek, Silvia Zandomeneghi, elffriede.aufzeichnensysteme, Andreas Leikauf, Rahel Helmhart, Andrea Zámbori, Babl Raketa und Pauline, Igor Kaminski und Juliana Kaminskaja sowie Alexandr Gornon abgedruckt.

Das sich selbst lesende Buch präsentiert sich als wunderbarliche Wundertüte, nämlich eine umgestülpte, die die Welt in all ihren Regenbogenfarben aus ihr herauspurzeln lässt und dadurch das Unsichtbare sichtbar macht. Es sei ebenso wie alle weiteren Werke von Ilse Kilic angelegentlich empfohlen, selbst zu lesen!

Ilse Kilic Das sich selbst lesende Buch
Kurzerzählungen, Überlegungen, Betrachtungen.
Klagenfurt: Ritter, 2016.
136 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 978-3-85415-543-0.

Rezension vom 17.01.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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