#Roman

Das Paradies meines Nachbarn

Nava Ebrahimi

// Rezension von Gerald Lind

Vom Kindersoldaten im Iran-Irak-Krieg der 1980er Jahre zum Guru der deutschen Industriedesign-Szene – Ali Najjar, eine von drei Hauptfiguren in Nava Ebrahimis zweitem Roman Das Paradies meines Nachbarn, hat, wie er selbst sagt, „mehr als überlebt.“ (58) Sein beruflicher Erfolg beruht dabei auf dem Vorsatz, „nie wieder Opfer“ (129) zu werden: „Und wenn ich kein Opfer sein will, muss ich Täter sein.“ (129)

Von den in Sicherheit und Stabilität aufgewachsenen deutschen Mittelschichtkindern, über deren Karrieren er entscheidet, unterscheiden ihn an Rücksichtslosigkeit grenzende Kompromisslosigkeit und Risikobereitschaft. Zu verlieren hat er schließlich, wie er meint, nichts mehr: „[W]enn man im Krieg war, wenn man gesehen hat, wie es den besten Freund in tausend Stücke reißt, wovor soll man dann noch Angst haben?“ (15)

Ali Najjars Antagonist wie, wenn man so möchte, Supplementfigur ist Ali-Reza. Seit seiner Verwundung als Kindersoldat im Iran-Irak-Krieg sitzt er im Rollstuhl, den Iran hat er nie verlassen. Zweimal pro Woche wird er von seinem Physiotherapeuten behandelt, der auf sublime Weise auch seine Sehnsucht nach körperlicher Nähe stillt: „zwei, drei Wochen ohne Berührung. Das hätte er nicht ausgehalten.“ (59) Bis zu ihrem Tod kümmerte sich Maryam, Ali Najjars Mutter, um ihn, mit der er seit dem Krieg wie ein Sohn zusammen lebte. Über Maryam sind die Biographien von Ali-Reza und Ali Najjar – die sich nie persönlich kennen gelernt haben – miteinander verschränkt, haben sich ihre Identitäten ineinander geschoben.

Sina Khoshbin, die dritte Figur, aus deren Perspektive erzählt wird, befindet sich im von wechselseitigen Projektionen aufgeladenen Symbol- und Erzählraum zwischen Ali-Reza und Ali Najjar. Als Münchner Industriedesigner mit persischem Vater ist er von Ehe, Familie und Beruf desillusioniert. Dem Zugriff seines neuen Chefs Ali Najjar versucht er sich zunächst zu entziehen, ein Sabbatical soll ihm Zeit verschaffen. Dann jedoch macht ihm Ali Najjar ein Angebot, dem ein Versprechen nach Ausbruch aus Stillstand und Mittelmäßigkeit, nach Transformation und Neubeginn eingeschrieben ist. Gemeinsam mit Ali Najjar fliegt Sina nach Dubai, um dort Ali-Reza zu treffen, der einen Brief mit dem Vermächtnis der verstorbenen Maryam zu übergeben hat.

Mit der Reise nach Dubai verdichtet sich die Spannung, vor einer hyperkapitalistischen Oberflächenkulisse vertiefen sich die zuvor parallel verlaufenden Handlungsbögen ineinander. Erzählerischer Kulminationspunkt des Romans ist dabei Maryams Brief an ihren Sohn, dessen Perspektive über Gedankeneinschübe sichtbar gemacht wird. Für die Lesenden werden über dieses literarische Verfahren Differenzen in Selbst-Wahrnehmung und -Verortung deutlich, die in ihren Implikationen über die konkreten biographischen Verstrickungen der Romanfiguren hinausgehen. Maryams aus der Summe des Erlebten und Nach-Gedachten erlangte Erkenntnis verweist auf eine ontologische Grundstruktur, die nicht nur für den Roman, sondern für menschliches Zusammenleben überhaupt bezeichnend ist: „Du trägst keine Schuld, und du trägst sie doch. Ich schätze, das heißt es zu leben. Zu überleben.“ (209)

Das Paradies meines Nachbarn ist ein austarierter, sich multiperspektivisch öffnender Roman, auch bei einer dezidiert politischen Lesart. Manipulative Strategien der Mullahs und die Komplizenschaft von Teilen der iranischen Bevölkerung werden ebenso lesbar gemacht wie die Doppelmoral des Westens, sich moralische Überlegenheit zuzuschreiben und gleichzeitig Profit aus Waffenlieferungen zu generieren. Was diese doppelte Agency bewirkt, lässt sich an einer Szene exemplarisch ablesen, in der kriegsinvalide iranische Giftgasopfer erfahren, dass sie sich für eine Studie europäischer Wissenschaftler zur Verfügung stellen sollen: „Der Mann mit den Krücken schrie: ,Wir sind doch nicht die Laborratten der Deutschen!‘ ,Genau, die können doch in Hitlers Buch nachlesen, welche Folgen Giftgas hat‘, erklang es von der Seite.“ (90)

Nava Ebrahimi verhandelt in Das Paradies meines Nachbarn komplexe Fragen von Zugehörigkeit und Fremdheit, von Verantwortung und Schuld auf unprätentiöse, zugängliche und nie ins Diskurstheoretische abgleitende Weise. Die ausgeklügelte Figurenkonstellation erzeugt eine stetige Erhöhung des Spannungsbogens, die es nahezu unmöglich macht, das Buch aus der Hand zu legen. Höchst lesbar, ausgefeilt komponiert und politisch so relevant wie differenziert ist „Das Paradies meines Nachbarn“ ein außergewöhnlich gelungener Roman.

Nava Ebrahimi Das Paradies meines Nachbarn
Roman.
München: btb, 2020.
224 S.; geb.
ISBN 978-3-442-75869-2.

Rezension vom 29.03.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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