#Sachbuch

Das österreichische Exil in Schweden 1938-1945

Thomas Kiem

// Rezension von Ursula Prutsch

Das im Zweiten Weltkrieg neutral gebliebene Schweden bot einer vergleichsweise bescheidenen Anzahl von Immigranten Zuflucht vor dem Nationalsozialismus – davon circa tausend Österreichern. Ähnlich anderen Aufnahmestaaten wies Schweden die Etikettierung als „Immigrationsland“ auf der Konferenz von Evian im Juli 1938 entschieden von sich. Es führte wie die Schweiz einen „J“-Stempel als Unterscheidungsmerkmal für jüdische Immigranten ein, verwehrte ihnen den Status von politischen Flüchtlingen und begann ab März 1940 mit Abschiebepraktiken in Internierungslager.

Durch die umfangreichen Arbeiten von Helmut Müssener wurde die sozialdemokratisch regierte Demokratie schon Mitte der siebziger Jahre in den Blickpunkt der Exilforschung gerückt. Müssener erstellte eine Fülle individueller Biographien, berücksichtigte damals bereits den Input von Wissenschaftsimmigranten sowie die Rolle von Flüchtlingen als Kulturvermittler. Dabei konnte er sich noch auf die Ergebnisse zahlreicher Interviews mit Zeitzeugen stützen. Die Nationalität der ImmigrantInnen machte er allerdings nicht immer explizit.

Thomas Kiem setzte sich mit seiner ursprünglich als Diplomarbeit verfassten Studie das Ziel, das österreichische Exil, seine politischen und kulturellen Ausdrucksformen zu erfassen. Kiems Analysen basieren vorwiegend auf Quellenmaterial aus schwedischen Archiven und Bibliotheken, auf Material aus dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), auf Quellen im Kreisky-Archiv in Wien, das den Nachlass des berühmten Schweden-Emigranten und österreichischen Bundeskanzlers beherbergt, sowie auf Datenmaterial aus dem Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK). Aus dieser seit 1989 aufgebauten computergestützten Datenbank filterte er 447 auf Schweden bezogene, in ihrem Informationsgehalt unterschiedliche Datensätze heraus und formte sie zu einer „Emigrationsdatenbank Schweden“. Im Idealfall ließen sich persönliche Daten, Religionsbekenntnis, der Emigrationsweg, die Wohnorte und Berufe, die „soziale Kategorie“, die politische Tätigkeit und eine mögliche Internierung der ExilantInnen erschließen. Ein interessantes Detail der vom Grazer Historiker Ingo Kropac propagierten quantifizierenden Methode ergab, dass 25 Prozent der Flüchtlinge zunächst in die Tschechoslowakei geflüchtet waren, bevor sie nach Schweden kamen.

Die Quantifizierung kann zwar in Bereichen wie der historischen Konflikt-, Bildungs- und Wahlforschung, bei kulturgeschichtlichen Fragestellungen oder etwa in der Kollektiv-Biographik angewandt werden, doch benötigt sie umfangreiches Datenmaterial. Aufgrund der schmalen Datenmenge (nur 17 Datensätze sind vollständig), sind Kiems Aussagen über Adaptions- und Akkulturationsphänomene, über interkulturelle Kommunikation bei einer religiös und sozial starken Heterogenität der Emigration nicht immer überzeugend, wie etwa jene, dass Emigranten aus den unteren Schichten „eine weit größere Solidarität seitens der Schweden als Angehörige der oberen Schichten“ erlebt hätten. Ebenfalls nicht nachvollziehbar bleibt auch die Zusammensetzung der von Kiem erstellten Sozialgruppenkategorie. Warum wurden etwa Land- und Forstwirte zum „Oberen Mittelstand“ gezählt? Waren hier Großgrundbesitzer gemeint?

Der Autor war sich der Schwächen der quantifizierenden Methode bewusst und kombinierte sie deshalb mit anderen historischen Quellen. So fügte er den Resultaten der Quantifizierung eine Reihe von gedruckten Selbstzeugnissen der ImmigrantInnen hinzu. Seine Archivrecherchen ermöglichten es, einige Desiderata der österreichischen Exilforschung zu Schweden einzulösen: So erschloss der Autor Quellen zur bedeutenden Hilfsorganisation „Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung“, die fast die Hälfte der emigrierten ÖsterreicherInnen betreute, und bewertete Handlungsspielräume und Strategien der beiden großen Exilgruppierungen, der Sozialisten und Kommunisten. Die Studie bietet einen Überblick über Publikationen, exilpolitische Auseinandersetzungen zwischen den Lagern, die Organisation des Widerstandes, die Kooperationen mit schwedischen Organisationen sowie die Rolle der überparteilichen „Österreichischen Vereinigung in Schweden“ (ÖVS). Der Vergleich mit sozialistischen Exilorganisationen in Großbritannien und den USA ergab, dass die österreichischen Sozialisten in Schweden die Wiederherstellung eines selbständigen Österreich ab 1939 nicht mehr in Frage stellten und sogar ihre Londoner Kollegen von der gesamtdeutschen und -europäischen revolutionären Ausrichtung ihrer Politik abzubringen versuchten. Die Diskussion über die Existenz einer österreichischen Nation wurde von den ExilösterreichInnen um Bruno Kreisky pragmatisch auf den Zeitpunkt nach der staatlichen Unabhängigkeit verschoben. Die Abgrenzung von Deutschland bildete – wie in anderen Aufnahmestaaten auch – ein zentrales Kriterium österreichischer Identitätskonstruktion im Exil. Für einen Überblick über kulturelle und politische Veranstaltungen ist ein chronologisches Verzeichnis im Anhang des Buches hilfreich.

Als Diplomarbeit hat die vorliegende Studie – der ein sorgsames Lektorat nicht zuteil wurde – aufgrund der zahlreichen eingesehenen Quellenbestände den wissenschaftlichen Ansprüchen sicherlich genügt. In der vorliegenden Form als Buchpublikation lässt sie einige Fragestellungen und Analysemöglichkeiten offen, die durchaus machbar gewesen wären, und die der Autor umrissen bzw. angedeutet, aber nicht ausgeführt hat. Im Kapitel über die Aktivitäten der Österreichischen Vereinigung in Schweden bemerkte Kiem am Rande, dass die künstlerischen Abende nicht nur die gemeinsamen kulturellen Bindungen der österreichischen Emigranten betont hätten, sondern auch geschickt eingesetzte Mittel kultureller Propaganda gewesen seien (S. 79). Quellen, die die Wirkung dieser Propaganda bzw. die Vehikulierung von Österreich-Bildern belegen könnten, fehlen jedoch. Neben Fragestellungen über die Karrieren von Wissenschaftsemigranten wie der Physikerin Lise Meitner und der Pädagogin Gusti Bretter hätte auch die Bedeutung des nordeuropäischen Flüchtlingslandes für Remigranten wie Bruno Kreisky ausführlicher diskutiert werden können. In einem Aperçu zur Remigration zitiert Kiem die Rolle Schwedens für Kreisky als „große Lehre“ mit Vorbildwirkung. Gerade aufgrund der vielzitierten Aussage über den Modellcharakter dieses Staates wäre eine kurze, strukturvergleichende Analyse spannend gewesen, spielte Schweden gerade in den Bereichen Sozialpolitik, solidarische Lohnpolitik und gewerkschaftliche Bildungsarbeit (vgl. Lorenz 1998) eine prägende Rolle. Denn wie Kiem abschließend schrieb, waren Bruno Kreisky „aufgrund [der] Erfahrungen in Schweden gewisse politische Ideen sehr viel realistischer…, als sie es vorher waren.“ (S. 100). Thomas Kiem schuf mit dieser knappen Studie eine gute Basis für Forschungen über österreichisches Exil in Schweden, lässt aber noch viele Fragen offen.

Thomas Kiem Das österreichische Exil in Schweden 1938-1945
Sachbuch.
Innsbruck, Wien, München, Bozen: Studien-Verlag, 2001.
136 S.; brosch.
ISBN 3-7065-1420-6.

Rezension vom 11.03.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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