#Roman

Das Nesselhemd

Elfriede Kern

// Rezension von Helmut Sturm

Elfriede Jelinek hat im Jahr 2014 erklärt, sich aus dem „extrem korrupten“ und „nepotistischen“ Literaturbetrieb zurückziehen zu wollen (http://fiktion.cc/elfriede-jelinek/). Sie veröffentlicht seither auf ihrer Homepage und betätigt sich im literarischen Beirat von fiction.cc, einer Seite, die sich „dem digitalen Publizieren deutsch-und englischsprachiger Literatur, die keinen gängigen Marktkriterien entspricht“, verschrieben hat. Diese „gängigen Marktkriterien“ sind nicht immer förderlich für die Literatur und ihre Verfasserinnen und Verfasser. Die Frage Jens Jessens „Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?“ ist berechtigt.

Die 1950 in Bruck an der Mur geborene Elfriede Kern, die heute in Linz lebt, hat sich nach vier – von der Kritik hoch gelobten – Büchern, diesem Literaturbetrieb für fast 15 Jahre entzogen. Ihr fünftes Buch, der Roman Das Nesselhemd, hat deshalb einen schwierigen Start. Der Literaturbetrieb schätzt es nicht, wenn Autorinnen nicht jedes Jahr ein neues Werk vorlegen, ihre Marke nicht pflegen. Dass in der Zwischenzeit starke Literatur geschrieben wird, ist dann zweitrangig. So verwundert es nicht wirklich, dass ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Romans etwa bei „Perlentaucher“ noch keine Rezension in einem großen deutschen Feuilleton angezeigt wird. Dabei ist die literarische Qualität auch bei diesem fünften Buch der ehemaligen Bibliothekarin in der Österreichischen Nationalbibliothek nicht anzuzweifeln.

Das Nesselhemd hält uns eine befremdliche Welt entgegen. Eine Welt voller veraltet geglaubter Formulierungen, Anspielungen auf Märchen und Literatur tun sich auf. Albtraumhaft und idyllisch zugleich. Ein Blick auf die Welt, der verfremdet und verzaubert und zugleich schonungslos Wunden und Ungleichgewichte in der Verteilung der Macht aufzeigt. Alles kreist um ein Paar, Sam und Meret. Die beiden sind voneinander abhängig, Unterdrückung und Unterwerfung, parasitäres und sich verausgabendes Verhalten bilden einen rätselhaften und grausamen Zusammenhang.
Meret, zur Wanderung in die Kälte des Nordens verbannt, erleidet Krankheit und Enttäuschung, Sam genießt es, auch Merets Rolle einzunehmen, nachdem er deren Weg bestimmt hat.
Erzählt wird das Alles von Meret, die in zwei Schulheften aufschreibt: Was passiert ist? Was passiert sein könnte? Was passieren hätte sollen? Jedenfalls ist Meret eine recht unzuverlässige Berichterstatterin, schreibt sie doch in zwei verschiedene Hefte. In das eine „nur was tatsächlich stattgefunden hat“, in das andere „alles, was sich vielleicht zutragen wird“. Dabei weiß sie manchmal selbst nicht, in welches Heft sie gerade schreibt. Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn können durcheinander geraten, das ist sicher. „Habe ich mir gedacht, habe ich geschrieben.“, würde da jetzt Meret ergänzen. Dies ist eine von etlichen Formeln, die immer wiederkehren. Die Wiederholung, bei Roman Jacobson ein Grundelement der poetischen Sprache, stellt sich modernem Empfinden oft entgegen, sind wir doch heute trainiert auf das Neue. Sie ist anstrengend, wenn sie auf Problematisches hinweist, nur auszuhalten, weil Elfriede Kern eine Autorin ist, die auch Humor wohl dosiert einzusetzen versteht.
„Möglichst weit vorankommen, dann aber, an einem äußersten Punkt, wieder umkehren und denselben Weg zurückverfolgen, bis zum Ausgangspunkt“, vereinbart Meret mit Sam. Dieses Im-Kreis-Gehen, dieses Unterwegssein, aber Nicht-vom-Fleck-Kommen zeichnet die Autorin auf unnachahmliche Art auf. Es steht quer zu populistischen Fortschrittsphantasien und einem zu geschäftigen Literaturbetrieb.
Johanna von Orleans wurde in einem Nesselhemd zum Scheiterhaufen gebracht. Meret lässt sich ein solches aus dem Theaterfundus überziehen. Es kratzt.
Johanna wurde zur Heiligen, wird Meret erlöst?
Um das herauszufinden sollte frau/man sich in die Welt dieses poetischen Romans hineinziehen lassen. Es lohnt sich.

Elfriede Kern Das Nesselhemd
Roman.
Salzburg: Jung und Jung, 2017.
254 S.; geb.
ISBN 978-3-99027-093-6.

Rezension vom 22.05.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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