Kos verbringt ein Jahr als Deutsch-Dozentin in einem Institut an der Charkiwer Universität und erlebt allerhand Skurriles und Lustiges, Interessantes und Besonderes. Sie porträtiert die Stadt Charkiw, die Eigenarten der ukrainischen und russischen Sprache (die beiden Hauptsprachen in der Millionenstadt) sowie die Menschen, denen sie begegnet. 19 der insgesamt 20 kurzen Kapitel sind diesen Personen gewidmet, sie heißen etwa Elena, Nikolay, Olga oder Cedric.
Die Vorgehensweise ihrer Geschichten und Beobachtungen stellt Kos gleich zu Beginn des Textes klar: „Seit ich hier [in Charkiw] bin, übertreibe ich gerne und zwar maßlos. Das habe ich von Serhij Zhadan.“ Letzterer ist einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller („Anarchy in the UKR“, „Big Mäc“, „Mesopotamien“, „Internat“ – auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen), der in Charkiw lebt und in Kos‘ Text wie ein roter Faden immer wieder auftaucht. Kos möchte Zhadan gerne treffen, sie versucht ihn per E-Mail zu kontaktieren – doch zwecklos. Und so begegnet sie ihm immer wieder zufällig an unterschiedlichen Orten der Stadt. Einmal sitzt er nur ein paar Plätze weit weg von ihr, doch Kos traut sich nicht, ihn anzusprechen.
Ein weiterer roter Faden ist das im Titel erwähnte Mundstück. Sie wird auf das Wort – auf ukrainisch Mundstuck, also U statt Ü – bei einer Reklame aufmerksam, kann es aber für sich noch nicht einordnen; heißt es auf Ukrainisch das gleiche wie im Deutschen, oder etwa doch nicht? Denn immer wieder taucht dieses Wort in einem anderen Kontext und in anderer Bedeutung auf, bis die zwei Fäden Mundstuck/Mundstück und Zhadan ebenso unerwartet wie spektakulär zusammenlaufen …
Überhaupt die Sprache, besser gesagt die Sprachen. Kos lernt die Unterschiede zwischen dem Ukrainischen und Russischen kennen – und ihre Tücken. Alles was im Russischen ein O hat, existiert im Ukrainischen mit einem I, so etwa in Charkow und Charkiw. Während dem G im Russischen ein H im Ukrainischen entgegensteht. Siehe Sergej und Serhij. Soweit, so einfach. Zu den gemeinsamen Eigenarten dieser slawischen Sprachen gehört es, dass Verben einen vollendeten und unvollendeten Aspekt haben – und hier tappt Kos in eine typische Anfänger-Falle, als sie ihre Student*innen zu einem österreichischen Abendessen bei sich einlädt. Allerdings hat sie den falschen Verbaspekt benutzt, so dass die Student*innen glauben, dass sie die ganze Zeit kochen würde, ohne je damit fertig zu werden. Darum essen die Student*innen kaum etwas, weil sie zuvor bereits daheim gegessen haben – schöne Sprachmissverständnisse, die zu heiteren Anekdoten werden. Doch nicht nur zwischen dem Ukrainischen und Russischen muss sie jonglieren, sondern auch zwischen dem bundesdeutschen und österreichischen Deutsch. So grenzt sie sich von ihrem deutschen Kollegen mit dessen bundesdeutscher Standardsprache ab: „als DAAD-Lektor trampelt er, nicht ganz unabsichtlich, auf meiner österreichischen Seele herum, die dadurch nur noch österreichischer wird.“ Etwa wenn Kos das Perfekt statt des Präteritums benutzt.
Es bleibt nicht nur bei sprachlichen Unterschieden. Die Großstadt Charkiw wird uns auf besondere Weise vorgestellt: Da es keinen deutschsprachigen Reiseführer über Charkiw gibt, schlägt Kos den Student*innen vor, einen zusammenzustellen. Sie sind sehr begeistert und Kos verteilt einzelne Recherche-Aufgaben: Cafés, besondere Sehenswürdigkeiten, Plätze, Friedhöfe, öffentliche Verkehrsmittel usw. Anfangs versucht sie noch, das Projektergebnis deutschsprachigen Reiseverlagen anzubieten, doch diese winken schnell ab: Es gebe kaum Touristen, die nach Charkiw fahren und einen Reiseführer brauchen – und die unsicheren Gebiete in Grenznähe zu Russland tun ihr übriges. Gegen Ende des Semesters muss sie zu ihrem Bedauern feststellen, dass ihre Student*innen kaum Informationen zusammengetragen haben. Also übernimmt sie immer mehr Aufgaben. Wir erfahren so, dass es in Charkiw nicht nur Cafés gibt, sondern auch Anti-Cafés, wo nicht nach Getränken, sondern nach Aufenthaltsdauer abgerechnet wird. Oder wir erkunden gemeinsam mit Kos die beeindruckende Peripherie der Stadt, die riesengroßen Boulevards, die unterschiedlichen Theater oder auch die unzähligen Friedhöfe. Dabei geht sie teils poetisch, teils griffig vor. So vergleicht sie immer wieder Bestandteile der Stadt mit einzelnen Körperteilen: Etwa repräsentieren Kirchen für Kos die Hände, da beide in der Ukraine sehr gepflegt werden. Und bei einer Fahrradtour im scheinbaren Nirgendwo am Rande der Stadt entdeckt Kos gar Charkiws Seele.
Mit Das Mundstück ist Bianca Kos ein vergnüglicher, meist heiterer Text gelungen. Dabei oszilliert sie gekonnt zwischen Realismus und Surrealismus, Nüchternheit und Übertreibung, Abschweifung und Verdichtung. Doch im Vordergrund steht nach der Buchlektüre die unbändige Lust, selber nach Charkiw zu fahren und auf ihren Spuren zu wandeln, um eigene alltägliche Abenteuer und skurril-schöne Begegnungen zu erleben. Und nicht zuletzt dient dieser Text en passant der – wie man früher gesagt hätte – Völkerverständigung.