Das ans Ende des Lyrikbandes gestellte kurze Prosastück „Die Atlanten stützen das Gebälk“ macht umso deutlicher, dass hier auch ein Sammler am Werk ist, der aus Altem Neues macht: „Was hier an vermeintlichem Schwemmgut zueinander in Beziehung gesetzt wird, deutet auf zweierlei Arten von Zukunft hin, einerseits auf das Vorhersagbare, das kalkuliert werden kann, andererseits auf das Unerwartete […]“ (S. 66)
Damit korrespondieren auch die Trümmer und Ruinen, Bilder des Zerfalls, die in den Gedichten überall zu finden sind. Es sind nicht nur Zeichen der Zerstörung, sondern Neuanfänge: Aufgelesen und neu zusammengesetzt ergeben die Bruchstücke etwas Neues, Anderes. Allerdings nicht in einem finalen Sinn, ist doch jeder fester Zuschreibung mit Misstrauen zu begegnen, wie in dem Langgedicht „Nach Camelot“ angedeutet wird: „Schwebepositionen des Übermittelten/ auch hier/ und wer schreibt immer noch mit/ die Chronik des laufenden Zerfalls/ ich schon/ ich schon wieder/ ich nicht/ ich füge die Trümmer für andere/ lege Spuren wie gefälschte Zeilen aus/ tue so/ als würde die Welt/ Sinn ergeben“ (S. 48) Mit diesem Neu-Auftauchen korrespondiert auch die den Gedichtband begleitende Fotoserie von Chris Saupper, deren Bilder von Stegen in verschiedenen Stadien der Überschwemmung eine seltsam überzeichnete Qualität zur Schau stellen und so auch auf einer visuellen Ebene der Frage nach dem Untergehen und der Oberfläche Raum bieten.
Gerade jene unerwarteten Zusammensetzungen, von denen in „Die Atlanten stützen das Gebälk“ gesprochen wird, machen den Reiz vieler Texte des Bandes aus. Am alten Text werden neue Verknüpfungen und Assoziationen ausprobiert, die zu neuen Bildern und Erkenntnissen führen, und gerade dafür sind Mythen und Texte wie Parzival sehr geeignet mit ihren variantenreichen Narrativen und Umschreibungen. So wird etwa im Herzstück des Bandes, dem titelgebenden Langgedicht „Das Mädchen Parzival“, Wolfram von Eschenbachs Parzival als offener Text rezipiert, dem durch eine neue Form, einen Geschlechterwechsel des Protagonisten und die Verbindung mit anderen Texten neue Varianten, Fortschreibungen und Dimensionen abgetrotzt werden. Einen Text nachzuverfolgen heißt hier aber wohl auch, von einem Text, einer Figur, einem Stoff verfolgt zu werden und ihn erst in der eigenen Produktion wieder loszuwerden. Entsprechend beschwörend kommt etwa „Das Mädchen Parzival“ daher und wird Strophe für Strophe angerufen, ob als Gottheit oder böser Geist wird nicht klar:
„das Mädchen Parzival buchstabiert sich um
schreibt sich ein, wird handgreiflich, neigt zu Entzündungen
sie folgt mir aus mehreren Lehrbüchern zugleich: textbooks
greift aus allen Richtungen an
überfällt Ländereien und Klassenzimmer“ (S. 31)
Dieser Umgang mit Texten geschieht unter anderem im Sinne der künstlerischen Forschung, in deren Kontext auch die bibliographischen „Hilfslinien“ (S. 73) zu verorten sind, die viele, aber längst nicht alle Bezüge aufzählen, und die auch die mögliche Schönheit einer Bibliografie als Sammlung erkennen lassen. Ähnlich wie bei familiären Bindungen, die in Das Mädchen Parzival häufig Thema sind, verhandeln die Gedichte ihre Einstellung zu den Prätexten, zu den „Hilfslinien“, ständig neu und müssen die eigene Position im Gefüge abtasten – vielleicht auch um eben jene „Brechstange für jede familiäre Schweißnaht“ (S. 40), die eine Lösung von der Tradition möglich macht, zu finden. Diese Art des forschenden Blicks auf Texte lässt eine Offenheit zu, die der klassisch-analytischen Forschung eher verwehrt ist, sie ermöglicht es, unterschiedliche Anfänge, Neuanfänge und Enden zu schreiben, und macht dabei trotzdem eine Aussage über den ursprünglichen Text: „ein offener Text/ und nicht den einen Weg hindurch wissen/ bezweifeln/ dass es eine einzige richtige Route gibt“ (S. 47), wie es etwa in „Nach Camelot“ heißt.
Das Mädchen Parzival bietet somit Gedichte in einer Vielzahl von Formen und Tonlagen, die von der produktiven Auseinandersetzung mit einer Lesebewegung zeugt, von neugierigen Erkundungen in Texten erzählt. So kann man das Spannungsfeld beobachten, in dem sich der neue Text am alten reibt und wird dabei selbst angestiftet, sich an der Entschlüsselung zu beteiligen, aktiv zu werden und sowohl die Ausgangstexte zu identifizieren als auch – gemeinsam mit dem Autor – neue Verbindungen zu suchen: „Das Nachvollziehen und Bewahren der Verbindungen, intendierter wie auch erfundener, soll mein geheimer Dienst an dieser Sammlung sein.“ (S. 66, 67)