Es ist ein Mädchen, das fast nichts weiss. Nicht einmal ihr eigener Name ist sicher, obwohl sie sich Yiza nennt. Das sechsjährige Kind ist völlig passiv und überlässt ihr Schicksal ohne Fragen den Menschen, die ihr begegnen. Der „Onkel“, der sie zum betteln schickt, der Händler Bogdan, der ihr zu essen gibt, oder die Kinderschwester, die sie im Heim pflegt. Yiza liefert sich ihnen aus, wie den älteren Jungen, die mit ihr aus dem Heim ausreissen. Immerhin spricht Schamhan ihre Sprache und gemeinsam mit Arian beginnt sie Schritt für Schritt eine gemeinsame Sprache zu erlernen. Zusammen ziehen sie durch verschneite Wälder auf der Suche nach einem Haus, wo die Kinder den Winter ungestört verbringen können und genug zu essen, zu trinken und auch einen Fernseher haben werden. Sie schlafen im Freien und in einem Heustadl und überstehen gemeinsam Kälte, Hunger und Durst. Sie brechen in ein Haus ein und werden erwischt. Nur den beiden Jüngeren gelingt die Flucht, obwohl doch Schamhan geplant hatte Yiza als lästigen Ballast bei der Polizei zurückzulassen. Arian und Yiza landen in einer fremden Stadt – oder ist es nur ein neuer Stadtteil? Der Autor lässt die Leser wie die Protagonisten seines Buches bewusst im Unklaren. Arian bringt die kranke Yiza in einem leerstehenden Glashaus einer Villa unter, während er tagsüber betteln geht. Er kommt schnell zur Erkenntnis, dass das Mitleid für ihn wegen seiner schon buschigen Augenbrauen gering ist. Schon flösst er fremden Menschen durch seine Existenz Angst ein. Yiza wird dagegen von der Hausbesitzerin gefunden, die sie wie ihr Eigentum einsperrt. Bis Arian eine schlimme Tat begeht, um Yiza zu befreien. Doch die Zukunft des kleinen Mädchens sieht der Autor eher düster.
Mit dem „Mädchen mit dem Fingerhut“ hat Michael Köhlmeier eine Geschichte vorgelegt, die auf große Resonanz in den deutschsprachigen Feuilletons stösst. Viele Kritiker sehen in der kurzen Erzählung ein Märchen. Ein böses Märchen, mit vielen realistischen Elementen. Tatsächlich hat Köhlmeier Versatzstücke aus bekannten Märchen verwendet, sei es das „Mächen mit den Schwefelhölzern“ oder „Hänsel und Gretel“. Er spielt gekonnt mit Andeutungen, ohne jemals zu kopieren. Dennoch ist es kein Märchen, sondern ein sehr reales Stück über eine Kindheit in Europa, wie sie lange unbeachtet geblieben war. Warum so viele Kritiker in dem Mädchen ein Flüchtlingskind erkennen wollen, bleibt fraglich. Köhlmeier ist viel zu schlau, um sich mit Details über die Identität des Mädchens festzulegen. Zudem haben ihn die Wolfskinder, eltern- und heimatlose Kinder, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Europa irrten, zu diesem Buch inspiriert, das er vor dem Beginn der Flüchtlingskrise begonnen hatte.
Wichtiger als die Diskussion um alleingelassene Flüchtlingskinder sind dem Autor fundamentale menschliche Beobachtungen. Wie Erwachsene, aber auch Kinder auf das süßliche Erscheinungsbild von Yiza reagieren und zugleich die älteren Kinder, die sich in der selben Lage befinden, schlecht behandeln. Wie wird hier Mitleid und Sympathie verteilt? Er findet vortreffliche Bilder, wenn zum Beispiel kinderlose Erwachsene ihre Wohnzimmer mit Puppen vollstopfen, aber mit dem Elend der echten Kinder nichts zu tun haben wollen.
Auch die Frage, wer bestimmen kann, wem wie geholfen werden soll, wird gestellt. Dieses so konsequent passive Kind wird zum Spielball der Wünsche von anderen, für die sie sogar Verbrechen begehen. Den sogenannten Gutmenschen wird hier ein schrecklicher Spiegel vorgehalten. Es sind die Vielschichtigkeiten, die in diesen Konstruktionen liegen, die die Größe dieses dünnen Bandes ausmachen.
Dabei nutzt Köhlmeier die Sprache, um uns die Welt dieses Kindes näherzubringen, ohne dass er in eine Ichperspektive verfällt. Es sind schlichte, adjektivarme Sätze mit einem übersichtlichen Vokabular, die die Welt vereinfachen.
Es gibt wenig gegen dieses Buch zu sagen. Es gibt einige Ungenauigkeiten in Nebensächlichkeiten. So kann Arian zum Beispiel die Plane allein nicht tragen. Aber mit der geschwächten Yiza zusammen trägt er darin alle möglichen geklauten Lebensmittel problemlos einen Hügel hinauf. Oder Yiza kann kaum die Türgriffe einer Kirchentür sehen, so weit oben sind sie, aber in einen Müllcontainer klettert sie wenige Augenblicke später ohne Probleme. Es sind nur kleine, zu vernachlässigende Unstimmigkeiten, und doch stören sie manchmal den Erzählfluss. Bedauerlich ist aber vor allem die Umschlaggestaltung des Verlages. Der Ausschnitt aus einer kitschigen Familienszene des spanischen Malers Rafael Martinez Diaz steht gegen die Intention des Autors, dem Leser kein konkretes Bild des Kindes vor Augen zu führen.
Wichtig ist dem Autor, den Blick auf Kinder zu lenken, die nicht im Wohlstand leben, die vernachlässigt sind. Es sind Kinder, die in den Städten Europas überall zu sehen sind und die doch von niemandem wahrgenommen werden. Michael Köhlmeier hat ein Anliegen, wie einige der wichtigsten Autoren des 19. Jahrhunderts: den Blick auf den unteren Rand der Gesellschaft zu lenken. In dieser Absicht ist ihm ein großes Buch gelungen.