#Roman

Das Loch

Simone Hirth

// Rezension von Ursula Ebel

Feministische Briefe an Jesus,
Murmeltier & Co.
Henriette ist eine junge Autorin und hofft auf den Schlaf ihres kleinen Sohnes, denn dieser erlaubt ihr zu schreiben. Denn literarisch tätig zu sein ist der einzige Weg, dem Loch, das sich oftmals vor ihr auftut, zu entgehen. Schonungslos und auf die Essenz verdichtet stellt die junge Autorin die Widersprüchlichkeiten des Alltags einer Mutter mit Baby in der ländlichen Provinz dar.

Während sich Simone Hirth in ihren ersten beiden Romanen – Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft (2016) und Bananama (2017) – den Tücken der modernen Konsumgesellschaft widmete, nimmt sie sich nun in Das Loch das tragende Element unserer Gesellschaft vor, die Kleinfamilie. In leidenschaftlichen Briefen an unterschiedliche Korrespondenzpartner*innen beschreibt die Protagonistin Henriette ihren Alltag. Dank dieser Form versucht die Autorin die fest aneinanderhaftenden Schichten der Formation Vater-Mutter-Kind abzutragen und ihre Funktionsweisen zu beleuchten. Eine Besonderheit des Romans liegt darin, dass leidenschaftlicher Tonfall und scharfe Beobachtungen einander nicht ausschließen, sondern gegenseitig befördern. Der lockere, humorvolle Tonfall des Buchs macht die geschilderten Umstände erträglich, ohne Ernsthaftigkeit einzubüßen.

Die bei Hirths Tiefenschürfungen entstehenden Erkenntnisse sind niederschmetternd. Der Vater ist vor allem durch seine Abwesenheit präsent, die junge Frau ist auf sich gestellt und ihr Alltag gewährt ihr kaum Freiräume. „Wenn die Kinder in der Schule, Abwasch und Einkäufe erledigt waren und das Bügeleisen langsam erkaltete, widmete sich Heinrich Böll seinem heimlichen Hobby, dem Schreiben.“ Dieses Zitat von Simone Meier (#dichterdran) stellt Hirth ihrem Roman voran und es fungiert gleichsam als Credo für das, was folgt.

In ihrem neuen Roman greift Simone Hirth, 1985 in Freudenstadt geboren und in Kirchstetten in Niederösterreich, der Wahlheimat des Poeten W.H. Auden, lebend, ein Thema auf, das einige österreichische Autorinnen in den letzten Jahren umtrieb, wie Andrea Grill in Cherubino (2019), Tanja Raich in Jesolo (2019) oder Gertraud Klemm in Muttergehäuse (2016). Zugleich reiht sie sich ein in eine globale Debatte über Mutterschaft und Kreativität beziehungsweise Berufstätigkeit. Jüngst legte etwa die kanadische Autorin Sheila Heti den rege rezipierten Roman Motherhood (2018), der die Unvereinbarkeit von erfolgreicher Karriere einer Autorin und Mutterschaft thematisiert, vor. Mit Dear Ijeawele, or A Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions (2017) erweiterte die US-amerikanisch-nigerianische Starautorin Chimamanda Ngozi Adichie die Debatte um die Frage einer feministischen Erziehung.

Unterstetten, 31. Dezember 2017. Henriette adressiert ihren ersten Brief direkt an das ominöse Loch, in diesem stellt sie sich als Mutter eines wenige Monate alten Babys vor. Bereits im ersten Schreiben fallen die paradigmatischen Worte des Buchs: Wut, Loch, Krieg und von zu Hause aus. Die folgenden Briefe, die sich genau über ein Jahr erstrecken, sind an eine kunterbunte Menagerie von Adressat*innen gerichtet, neben dem Loch sind das u.a. Jesus, der Kanzler, die Frauenministerin, das Murmeltier, Rosa Luxemburg, Mohammed, der Frosch, der Sohn, der Felsbrock, die Natur und (einmal) ihr Ehemann.
Die Zerrissenheit der jungen Frau zwischen Schreiben und Kinderfürsorge ist das verbindende Element von Henriettes Korrespondenzen. Acht Monate nach der Geburt gelingt es der Autorin erstmals ansatzweise ihre Autonomie als Schreibende wieder zu erlangen. „Ich schreibe jetzt im Stehen, Papier auf Wickelkommode. (…) Ich bin müde. Ich würde auch gerne weinen. Aber es führt ja zu nichts. Ich bleibe stehen. Schreibend jetzt. Wenigstens schreibend.“ (Vgl. Leseprobe) Die Autorin nimmt sich vor „ohne Scham“ zu schreiben, die Briefe an imaginierte, unerreichbare Personen nehmen ihr das bedrohliche Gefühl von Einsamkeit.

Rettungsanker im Kaff Unterstetten

Für die Einsamkeit gibt es vielerlei Gründe. Henriettes Partner ist kaum zuhause, ihre Mutter lebt im Ausland. Das Paar ist erst kürzlich nach Unterstetten gezogen, Henriette hat also noch keine Bekanntschaften geschlossen. Lange glaubt sie die einzige junge Mutter zu sein. Rettungsanker stellen die Natur, der Nahversorger Nah & Gut sowie die örtliche Gemeindebücherei und ihre wohlwollenden Betreuerinnen dar. Bald erhält die Autorin einen eigenen Schlüssel zur Bibliothek, der ihr Zugang zu einem Schreibraum frei nach Virginia Woolf ermöglicht. Doch aufgrund der mangelnden Kinderbetreuung kann sie von diesem gutgemeinten Angebot kaum Gebrauch machen.

Ein Krater geistiger Leere

Der Alltag verhindert das Schreiben und führt zu einem Gefühl der geistigen Leere. Ein Krater tut sich auf, die junge Mutter steht vor dem Abgrund. Hirths Loch isoliert auf ebenso dramatische Weise wie die unsichtbare Wand in Marlen Haushofers für die österreichische Literatur der 1960er Jahre paradigmatischen Roman Die Wand. Probates Mittel gegen das Loch ist das Schreiben, einzelne Wörter können für Henriette Stütze sein. „Es gibt ein Papier unter dem Schreiben, das fängt alles auf. Nimmt alles ernst. Sogar den Blödsinn, den ich nie einfach so sagen würde: Der Himmel ist heute so seltsam blau. So ein dummer Satz. Aber auf dem Papier steht er dann, und er sieht schön aus.“ Der Roman verbindet auf eindringliche Weise feministische Agenden mit Fragen nach der Funktion literarischen Schreibens. Die Autorin lotet die Grenzen des Alltags einer jungen Schriftstellerin aus, die sich um ein Kleinkind sorgt. Das Fazit fällt bedrückend aus. Partiell erlangt die Ich-Protagonistin jedoch ihre Stimme zurück: „Ich habe einen Sohn. Ich habe einen Wortschatz. Und einen Schlüssel für die Bücherei.“

Verve, Wut und Humor

Das Loch bringt somit die Verzwicktheit des Alltags einer jungen Mutter auf den Punkt. Zugegebenermaßen sind freundliche Angebote und gute Ratschläge vorhanden, die reale Unterstützung lässt jedoch auf sich warten. Wer bei der Lektüre des Buchs nicht den Blick freibekommt für die unfairen geschlechterspezifischen Bedingungen und wen nicht bald eine ordentliche Wut ergreift, dem ist nicht zu helfen. Selbst wenn Henriette aufbegehrt und ihre Wünsche äußert, sie wird nicht gehört. Simone Hirth schmettert einem in Das Loch Sätze mit viel Verve und Wut entgegen, die nicht nur an einen imaginären Frosch adressiert sind, sondern auch einen Frosch im Hals der Leserinnen und Leser erzeugen, etwa wenn sie sich an einen Briefpartner mit folgender Erkenntnis wendet: „Liebes Murmeltier, deine Zähne sind gelb wie die Hoffnung.“

Simone Hirth Das Loch
Roman.
Wien: Kremayr & Scheriau, 2020.
272 S.; geb.
ISBN 978-3-218-01209-6.

Rezension vom 27.05.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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