#Prosa

Das Lied vom Pferdestehlen

Hubert Flattinger

// Rezension von Helmuth Schönauer

und andere Erzählungen aus einem wilden Westen.

Eine der berühmtesten Erzählungen Franz Kafkas ist so kurz, daß sie Zitat, Schreibprogramm und Inhaltsangabe in einem ist. „Wunsch, Indianer zu werden / Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“

Diese Erzählung Franz Kafkas, die sich wegen der inneren Stringenz nur als Ganzes zitieren läßt, ist Programm für Hubert Flattingers Erzählungen aus einem wilden Westen. Die dreiundsechzig Geschichten sind vom Umfang her streng auf knappe zwei Seiten genormt, da sie teilweise in der wöchentlichen Fiktion-Beilage der „Tiroler Tageszeitung“ erschienen sind. Darüber hinaus sind die Geschichten jeweils abgeschlossene Texte, die aber den Rhythmus der wöchentlichen Erscheinungsform in sich haben. Und letztlich ist der Untertitel „aus einem wilden Westen“ eine Anspielung auf Tirol, das von Wien aus gesehen zusammen mit Vorarlberg als der wilde Westen der Kultur gilt.

In Hubert Flattingers Geschichten geht es um konkrete Anläße wie Anbandeln, Sehnsucht, Durst, Hunger, Spiellust, Zeitvertreib oder Duell, aber das Inventar ist dem Zitatenschatz einer Karl-May-ähnlichen Welt entnommen. Ständig wechselt der Lebensstandard des Westens in ein Zitat aus der Welt des wilden Westens und wieder zurück.
Der Wunsch, Indianer zu werden, geht für den aktuellen Helden der jeweiligen Erzählung stets in Erfüllung, obwohl er sich beispielsweise Hemdsärmel aufkrempeln muß und auf dem Weg nach Stockholm am Fernpaß einen Streifschuß einfängt. (S. 16) Im Sinne Don Quixotes sind die Windmühlen nie da, wenn man sie braucht, andererseits wird man von ihren Windflügeln erschlagen, wenn man sich der Realität zuwendet.

Nach diesem Prinzip erleben die Helden realistische Abenteuer und heben gleichzeitig vom Boden ab.
Eine Paradesituation liefert dabei oft die Bar, die zur Prärie wird, ungeheuren Durst auslöst und plötzlich eine Schönheit hinter der Budel auftanzen läßt, wenn genug Feuerwasser geflossen ist.

Jede Kleinigkeit kann letztlich Ursache und Inhalt einer Erzählung sein, wenn man ihr Beachtung schenkt. So bringt ein Indianer, der seinen letzten Willen kundtun will, nie mehr als das Wort „also“ über die Lippen, als hätte er noch ein Leben lang Zeit, um die letzten Worte zu formulieren.
„Kleine Ursachen II“ (S. 83) heißt dann auch eine Geschichte, in der ein entleerter Weinkeller, ein Tatort in der Nähe eines Freudenhauses, ein Bauernbub und eine Waldlichtung in desaströser Weise aufeinander treffen. „War einfach ’n Pech!“ heißt die abschließende Beurteilung.

Hubert Flattingers Geschichten haben den absurden Drall in sich, der den Leser sofort aus den Koordinaten einer fixen Raum-Zeit-Vorstellung hebelt. Und spannend sind die Erzählungen obendrein, denn die Helden haben jeweils wirklich ein Schicksal, das dem Leser nahe geht.

Hubert Flattinger Das Lied vom Pferdestehlen
Erzählungen.
Hall in Tirol: Berenkamp, 2000.
112 S.; geb.
ISBN 3-85093-114-5.

Rezension vom 05.05.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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