#Prosa

Das letzte Heft

Ingram Hartinger

// Rezension von Martin Kubaczek

Bagatellen sind bedeutungslose Kleinigkeiten, aber Hartingers „Bagatellen“ liegen im existentiellen Zwist mit der Schöpfung. „Mon Dieu, Gott allein weiß, warum er den Menschen erschuf“ (S. 230), dem nichts anderes bliebe, als dem Verstummen und seiner Verlorenheit zwischen Wunder, Wunde, Wunderlichem nachzugehen. Dies betreiben die „Bagatellen“ mal in der Empfindlichkeit spätmittelalterlicher Stundenbücher, dann wieder in existentiellen Prosagewittern gegen emotionale Nistplätze, falschen Trost.

Der Text setzt ein mit dem Bild eines toten Körpers, nackt auf dem Tisch, zum Waschen bereit. „Sie öffnen seine Brust, seinen Hunger. Hunger wie Wind oder Tage.“ (S. 11) Nicht eine Anatomie wird perspektivisch verkürzt fortgesetzt, mit dem „Hunger“ kommt sofort eine existentielle Komponente herein, die mit dem Folgesatz poetisiert wird. Die Wut des Nicht-Verstehens erweist sich als Triebkraft des Textes, der in Volten und Klagen gegen die rational nicht lösbaren Fragen des Daseins revoltiert. Nicht positivistische Objektivierung, sondern Körpergefühl und akribische Ich-Wahrnehmung charakterisieren dieses Schreibprojekt, das in Schüben aus Notaten und Tableaus, Absätzen und tagebuchartigen Einträgen vorgeht.

Die Paragraphen und Absätze dieser Prosa sind durchgehend im Präsens gehalten, Observation und Imagination folgen aufeinander, durchmischen sich, regen einander an. Nur einmal kommt eine kleine Kafka-Phantasie im Präteritum vor, ein Ausnahmefall im abgeschlossen Erzählduktus, ansonsten zeigt sich der Text als ein chronologisch vorgehendes Patchwork an Befindlichkeiten, Reflexionen, Schreibanlässen und Miniaturen, als „Inzest des Augenblicks“ (S. 171) auf dem „Schlachtfeld des Alltags“ (S. 150). Immer wieder begegnet man einer Art abgespaltenem Ich-Erzähler, der sich über sein Alter Ego mokiert, wenn er sich an die Arbeit des Schreibens macht, eine „Arbeit, deren Gegenstand der Arbeiter selbst ist.“ (S. 230) „Alle Türen geschlossen?“ (S. 76) setzt er an zum Gedankenflug, schafft so, Zelle für Zelle, einen Textkörper, aufgebaut aus vielen kleinen Autor-Monaden. Die lyrische Grundkonstellation dieses Schreibens erweist sich als Gegenwelt poetischer Selbstbehauptung, schafft eine „poröse Topografie“ (S. 168) im unsteten Wandern durch die Gefilde von Melancholie, Angst, Aufmerksamkeit, störrisch und eselsgleich verharrend auf dem Unerwarteten und der verlorenen Möglichkeit zu Epiphanie.

Auf einer Bildebene sind eigentümliche Schnappschüsse von geradezu schamanistisch wirkenden Objekten aus dem Garten der Mutter einmontiert: Klostergarten, Häuslichkeit, Materie als Mutterstoff. Hier spielen Mythen herein, die sich zugleich in das Vage von Dinglichkeit und Vergehen stellen. Stoff- und Papierfetzen, tibetischen Gebetsfahnen ähnlich, Geflochtenes und Vergessenes, als Eigentümlich Bewahrtes, Gesammeltes und Vergessenes, Objet trouvé und Selbstverweise wie ein nackter Fuß, am Körper hinab fotografiert: So betten sich diese Motive als das Rätselhafte, Fremde, in den Textkorpus eines verwilderten, vegetabilisch wuchernden Denkens ein.

„Hirnmoos“, „anämische Knospen“, „freundliche Riffe“, „Zungengöttin“ (S. 31ff) überraschen Komposita und Bilder einer „ornamentalen Prosa“, die Hartinger als „altmodisches Spiel mit Mund- und Fingerspur“ (S. 192) bezeichnet. Da „rattern“ Schwäne übers Wasser (S. 37), oder es wird gefragt: „Und welche Temperatur hat dieser Satz?“ (S. 196). Immer wieder wird die Schreibsituation reflektiert: „Frühmorgens schon Fleischaufstrich und Schwermut“ (S. 180), versucht der Autor es mit Ironie gegenüber der Schwermut und Düsternis eines Bildvokabulars zwischen Zelle und Gefangenheit. Bei allem sprachlichen Output durchzieht diese Prosa dennoch ein Gefühl resignativer Nicht-Mitteilbarkeit, die sich nur in indirekten Bildern, Gleichnissen und Analogien entäußert. Flucht- und Ausbruchswünsche bleiben ebenso Bild, scheitern als Bild, sind aber textkonstitutiv, bis hin zum Zweifel.

Seit Jahren arbeite Hartinger unbeirrt an seiner Randliteratur, schrieb Franz Haas in der NZZ, und dies, so könnte man fortsetzen, mit einem unverkennbar wütenden Gestus und Ton im Ringen um Transzendenz. Sein Leserkreis ist schmal, und die akademische Welt weiß nicht recht mit dem unermüdlichen Output des literarischen Maniaks umzugehen, sein Schreiben einem Kanon zuzuordnen. Ein möglicher Referenztext für Hartingers „Bagatellen“ wäre etwa Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, eines der Hauptwerke der Schwarzen Romantik, lange vor Nietzsche, Kierkegaard, Baudelaire. Im Roman „Siebenkäs“, 1796 veröffentlicht, wird hier die Alptraum-Vision eines von Gott verlassenen Universums von einem Erzähler-Ich beschrieben, das nicht aus dem, sondern im Traum erwacht. „Aufgewacht aus einem Nachmittagsschlummer“ setzt auch Hartingers Ich-Erzähler die Traum-Logik seines labyrinthischen Textes fort, und in Motiven, Gleichnissen und Bildern erkennt man die apokalyptische Tradition dieser Prosa, deren Titel die Finalität proklamiert, im düsteren Unisono etwa mit der Apokalypse des Johannes (6,12): „Die Sonne ward finster wie ein schwarzer Sack“; Hartinger: „Finster ist die Erde, wie ein Sack“. (271)

Wer sich einlässt auf diese Art von Text, sollte auf einiges gefasst sein: Hier wird hintergangen und untergraben, umgewühlt und getobt, und dennoch: es gibt keinen Ausbruch, kein Entkommen aus der sprachlichen Zelle, der Zeile, dem Satz. Die Ordnung liegt in der Grammatik, das Sprechen generiert seine kühnen Metaphern, die Sätze sind wohl gefügt, die Syntax funktioniert ohne Stottern – wird Gott damit nicht zum unsichtbaren Maschinisten. Negation und Absenz werden zum grammatischen Beweis eines Deus absconditos; die grammatische Leerstelle kreiert ein Vakuum, das die narrative Sinnstiftung blockiert. Jean Paul lässt seinen Erzähler erwachen, um die Schöpfung zu preisen und seinen Alptraum als Warnung zu verstehen, Hartinger erlaubt sich eine so brave didaktische Versöhnung nicht. Gegen den Alptraum setzt er Reflexion und überbordende Kreativität.

Ingram Hartinger Das letzte Heft
Bagatellen.
Klagenfurt: Wieser, 2008.
307 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 978-3-85129-769-0.

Rezension vom 23.09.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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