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Das Labyrinth

Gerhard Roth

// Rezension von Peter Landerl

Selbstbildnis im Konvexspiegel:

Dass Gerhard Roth im von der Regierung ausgerufenen „Gedankenjahr“ keine Lobeshymnen auf die „Insel der Seligen“ verfassen würde, war klar. Sein neuer Roman Das Labyrinth, das fünfte Buch des auf sieben Bände angelegten Zyklus Orkus, lässt gleich zu Beginn das Herzstück der österreichischen Geschichte und Erinnerung, die Wiener Hofburg, in Flammen aufgehen. Bei der Begehung der Brandstelle zeichnet er ein wenig schmeichelhaftes Bild des damaligen Wirtschaftsministers und heutigen Kanzlers: „Der Minister sagte nichts, sondern verschwand hinter einem Schutthaufen und schlug dort eilig sein Wasser ab. Sein Geschlechtsteil war winzig klein.“ Später nennt er den Ballhausplatz „Walhalla der Arschlöcher“. Seine Kritiker werden aufschreien, gleichzeitig wird es sie freuen, dass er ihnen Munition geliefert hat, um auf Jagd auf den „Nestbeschmutzer“ gehen zu können.

Roth ein unverbesserlicher, rachsüchtiger Zornbinkel? Nein, ein begnadeter Erzähler, und damit weg von den öffentlichkeitswirksamen Happen zum eigentlichen Inhalt des Romans:

Dem Psychiater Dr. Pollanzy kommt -da sein Vater Direktor des Museums für Völkerkunde war -das Privileg zu, in der Hofburg zu wohnen. Pollanzy beobachtet in trunkenem Zustand den nächtlichen Hofburgbrand und verdächtigt sofort seinen ehemaligen Patienten, den Pyromanen Philipp Stourzh der Tat. Dieser hat unter anderem das elterliche Briefmarkengeschäft abgefackelt (und damit sein Erbe zerstört), weil es der Großvater, ein überzeugter Nazi, dem jüdischen Besitzer abgepresst hatte. Das Verhältnis von Pollanzy und Stourzh ist schlecht, doch einige Jahre nach dem Ende der Therapie taucht Stourzh im Gugginger Haus der Künstler auf und will dort als Hilfspfleger arbeiten, was dem Geschichtsstudenten auch gewährt wird. Dort freundet er sich mit dem beharrlich schweigenden Lindner -ebenfalls ein Patient von Pollanzy -an, der Roth-Lesern aus dem Landläufigen Tod erinnerlich ist.

Überhaupt werden Kenner von Roths Werk einige Déjà-vu-Erlebnisse haben, tauchen doch noch weitere Figuren aus früheren Romanen auf, etwa der Untersuchungsrichter Sonnenberg, der Anwalt Jenner, der Bibliothekar Feldt oder der Journalist Gartner. Schließlich führt er -und begibt sich damit auf gefährliches Terrain -einen Schriftsteller in die Handlung ein, der nicht unschwer als Alter Ego von Roth zu erkennen ist: „Sein zuvorkommendes Äußeres steht in keinem Einklang zu seiner mitunter taktlosen Unerbitterlichkeit. Es ist auch allgemein bekannt, daß er übermäßig trinkt und zu Wutausbrüchen neigt. Sein hervorstechendes Merkmal allerdings ist seine Monomanie. Er besitzt eine umfangreiche Bibliothek und arbeitet seit Jahrzehnten an einem Projekt über den Wahnsinn.“ Und: „Was trieb den Schriftsteller, den ich im Café Prückel kennengelernt hatte, dazu, sich mit Sonnenberg, dem „Haus der Künstler“, Lindner, Stourzh und all den anderen Patienten zu befassen? Was sucht er, frage ich mich. Das Schöpferische? Und dieses Schöpferische: Was versteht er darunter? Beneidet er die Patienten um ihre ver-rückte Wahrnehmung der Welt, ihr inneres Ungleichgewicht, ihre irrationalen Überzeugungen? Hat er in geheimen Momenten, allein mit sich selbst, ähnliche Erfahrungen gemacht?“

Wie die Spinne im Netz sitzt die ebenfalls in Gugging arbeitende Logopädin Astrid, die Beziehungen zu allen vier Figuren unterhalten muss -eine kleine Schwäche des Romans -, um die Handlungsstränge festzuhalten.

Das Handlungsgeschehen oszilliert zwischen der Hofburg, Gugging, Madrid, Toledo, Lissabon und Madeira. Wie auch in den anderen Romanen des Orkus-Zyklus verwebt Roth Geschichte, Reisebeschreibungen und einen Kriminalplot zu einem Roman. Im Labyrinth wird Dr. Pollanzy während eines Kongresses in seinem Hotelzimmer überfallen und schwer verletzt. Aber die Kriminalhandlung ist nicht der zentrale Handlungsmotor. Dagegen stehen die überaus reichen historischen, kunstgeschichtlichen und literarischen Exkurse (die in Fußnoten weiter präzisiert werden!) im Vordergrund, die Roth eifrig und penibel recherchiert hat. Stourzh etwa referiert über seine Diplomarbeitsthemen, die Infantinnenbilder von Vélazquez und den letzten Habsburgerkaiser Karl. Der Schriftsteller nimmt den Leser mit nach Madrid und Lissabon und erweist sich als profunder Reiseführer.

Der Leser wandelt durch ein faszinierendes historisch-literarisches Labyrinth, ständig begleitet vom trüben Licht des Wahns: Er wird in die Sterbezimmer von Kaiser Karl und Kafka geführt, zum französischen Dichter Pascal, dem das ordnungslose Denken die wahre Ordnung war, zum Vielschreiber Fernando Pessoa, der virtuos mit Heteronymen spielte und in allem Poesie erkannte, zu Cervantes, der seinen Don Quichote im Wahn enden ließ. Das Völkerkundemuseum in der Hofburg wird zum Reich des musealisierten (und damit gefangenen) Mystischen und Unbewussten.

Das Labyrinth besteht aus sechs Büchern, die von vier verschiedenen Erzählern verfasst wurden, mit Nachworten und editorischen Bemerkungen versehen sind und die Gültigkeit des Erzählten in Frage stellen. Was ist Schein und was ist Wirklichkeit? Roth zeigt damit den dünnen, schwankenden Boden, der die Realität vom Wahn trennt.

Mancher Kritiker hat sich an der disparaten Konstruktion des Romans gestoßen, dabei aber übersehen, dass dieses (im wahrsten Sinne des Wortes) „Verzetteln“ Roths Methode und Programm ist. In seinem Orkus-Zyklus hat sich der Autor auf eine Odyssee begeben, die viele fremde Ufer ansteuert und dabei in ihrem universellen Ansatz oft in die Irre gehen muss. Roth hat im Labyrinth wie der junge Parmigianino in einen Konvexspiegel geschaut, überzeugt, dass nicht der klare, feste Blick, das Eindeutige, sondern nur die Verzerrung die Wahrheit widerspiegelt. Damit ist ihm ein großer Roman gelungen, ein Buch über „die Könige, die Geisteskranken und die Künstler -und nicht zuletzt über mich selbst.“

Das Labyrinth.
Roman.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2005.
464 Seiten, gebunden.
ISBN 3-10-066059-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 02.03.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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