#Prosa

Das japanische Fährtenbuch

Wolfgang Hermann

// Rezension von Walter Wagner

Die jahrhundertealte Faszination des Okzidents für den Orient hat – als eine von westlichem Kolonialismus und Imperialismus dominierte Begegnung – abseits der machtpolitischen Annalen auch ein Stück weit Literaturgeschichte geschrieben. Während europäische Großmächte, von ökonomischen und territorialen Begehrlichkeiten getrieben, in entlegene Regionen der Erde aufbrachen, versuchten Literaten und Schriftsteller, den Mythos eines schwer fassbaren, unkonturierten Morgenlandes im Spiegel des Worts sichtbar zu machen. So hat sich neben dem hegemonialen Narrativ von Strategen und Kaufleuten, die sich als Lohn für die weite Reise in den Osten märchenhaften Reichtum erhofften, ein stiller, unaufdringlicher Orientalismus-Diskurs etabliert, der im literarischen Kunstwerk die Annäherung an das Fremde, ja Befremdliche mit den Mitteln der Ästhetik anstrebt.

Der an einer japanischen Universität lehrende Wolfgang Hermann zählt zu diesen alternativen Orientfahrern, die nicht in exotischen Häfen anlegen, um ihre Schiffe mit Spezereien und morgenländischen Kostbarkeiten zu beladen, sondern um Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. In der Reihe Limbus Preziosen wurde nun die literarische Ausbeute eines zweijährigen Lehraufenthalts in Tokyo in erweiterter Form neu aufgelegt. Es handelt sich dabei um einen schmalen Prosaband mit dem vielsagenden Titel Das japanische Fährtenbuch, in dem der Autor Gehörtes und Gesehenes als Erfahrungsbericht an sein Publikum heranträgt. Nur in Ansätzen erzählend, geriert sich sein Text als Summe stilistisch vollendeter Prosagedichte und aphoristisch zugespitzter Beobachtungen eines höchst wachen Flaneurs, dem kein Ereignis zu banal erscheint, um nicht das Besondere der Situation behutsam und geschickt herauszuschälen. Aus diesen ästhetisch überaus anspruchsvollen Splittern ergibt sich ein lebendiges Stadtporträt, aber auch ein Bild der (urbanen) japanischen Kultur zur Jahrtausendwende. Und es zeigt sich, dass sich dieses Eiland im fernen Osten dem Reisenden voller Gegensätze und Paradoxien präsentiert. Besonders eindrücklich äußert sich dieses Spannungsverhältnis, wenn Japanerinnen ins Gesichtsfeld des österreichischen Spaziergängers rücken. Puppenhaft, selbstverliebt distanziert und aufreizend gekleidet, changieren diese Asiatinnen nach Bedarf zwischen Prüderie und Prostitution und erweisen sich dem unbedarften ‚Westler‘ als mysteriöse Wesen, dem japanischen Grapscher hingegen als willkommene Opfer.

Immer wieder stößt der unverständliche Code japanischer Sitten und Gebräuche den ausländischen Besucher vor den Kopf, erzeugt Missverständnisse – und dies auf beiden Seiten. Sowohl die Einheimischen mit ihrer zum Zeremoniell erstarrten Etikette als auch die westlichen Touristen, die den Japanern vielfach als zügellose Barbaren erscheinen, bleiben einander ein Rätsel, wobei sich Japan, wie aus Hermanns Ausführungen hervorgeht, nicht gerade durch Offenheit gegenüber dem Fremden auszeichnet. Zwar hat die Konsumkultur mit ihrem Emblem, der Shopping Mall, längst die japanische Großstadt erobert, gleichwohl bleiben Europäer und Amerikaner im urbanen Gewimmel geduldete Außenseiter, zumal wenn sie die Landessprache nicht oder nur ungenügend beherrschen.

Aber wahrscheinlich trägt dieses alltägliche lost in translation zum besonderen Reiz Tokyos und Japans schlechthin bei, dessen Wesen Hermann treffend umreißt: „Land der Verkleidungen. Land der Masken. Land des Geschlechtertauschs“ (S. 12). Wo permanente Beschallung die uniformen Gesten der Einheimischen wie Gaze zu umhüllen scheint und Berührungsängste von einem omnipräsenten sumimasen, der japanischen Entsprechung von „Entschuldigung“, kaschiert werden, überfällt auch den Schriftsteller ein Gefühl der Entfremdung. Plötzlich entpuppt sich die hart erkämpfte Vertrautheit als Chimäre, als Selbstbetrug, dem der Feinfühlige, Kontemplative erlegen ist: „Aus Europa zurückgekehrt, fiel ihm in den ersten Tagen besonders die Höflichkeit der Tokyoter, aber auch die Sterilität Tokyos auf. Nach einigen Monaten dann, bei einem Glas Bier, bemerkte er erst, wie weit er sich in Tokyo von seinem Leben, von sich selbst entfernt hatte“ (S. 54f). Der Wechsel der Erzählperspektive, vom „Ich“ zum „Er“, dessen sich der Autor als Kunstgriff verschiedentlich bedient, unterstreicht dieses Sich-selbst-fremd-Werden und die verwirrende Ortlosigkeit zwischen zwei Kulturen, wo nirgends mehr Heimat zu finden ist.

Doch es ist gerade diese dem Schriftsteller wesenhaft eignende, existenzielle Distanz des „Überall-Fremdlings“ (S. 94), um mit Reinhard Kaiser-Mühlecker zu sprechen, die Hermann in Tokyo (erneut?) kennenlernt und der sich wohl auch seine Literatur verdankt: „Oft ist mir, als hinge ich im Leeren, ohne Gegenüber, ohne Widerstand, Widerhall. Ich flüchte in die abendlichen Vergnügungen, zu Bier und Gesellschaft, um das größer und größer werdende Loch zu stopfen, die Stimmen der Einsamkeit zum Schweigen zu bringen“ (S. 81f). Aus dieser Perspektive betrachtet, wäre Hermanns Stadt-Buch zugleich eine Allegorie des Schriftstellerdaseins und Tokyo die Chiffre einer lebenslangen Suche nach Ausdruck und dessen Legitimation. Eingeweihte wissen, was damit gemeint ist, und wissen Das japanische Fährtenbuch aufgrund seiner ihm eingeschriebenen doppelten Lesart umso mehr zu schätzen.

Diese mitnichten inszenierte Hintergründigkeit begleitet Hermanns exotische Exkurse wie eine ätherische Begleitmusik und fordert auch den Leser auf innezuhalten: „Etwas in ihm steht still, seit er in Japan ist. Als müsste jemand anders für ihn dort weitermachen, wo er aufhörte“ (S. 85). Bis hierher und nicht weiter, scheint uns der Autor zu bedeuten, der begriffen hat, dass das Glück auch im Unsagbaren zu ruhen vermag. Wann hat man das letzte Mal so beglückend Schönes über das Fremde und die Literatur gelesen?

Wolfgang Hermann Das japanische Fährtenbuch
Erzählung.
Erweiterte Neuauflage mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser-Mühlecker.
Innsbruck: Limbus, 2017.
96 S.; geb.
ISBN 978-3-99039-107-5.

Rezension vom 14.05.2017

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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