#Sachbuch

Das Imaginäre des Fin de siècle

Christine Lubkoll (Hg.)

// Rezension von Leopold Federmair

Statt eine Rezension dieses auf ein Symposion im Jahr 1999 zurückgehenden Sammelbandes über das Imaginäre des Fin de siècle zu bieten zu bieten, kann der Rezensent auf das Vorwort verweisen, das die Herausgeberin zusammen mit Inge Steutzger verfasst hat. Dieses enthält knappe und klare Inhaltsangaben aller Beiträge, so dass der Leser, bevor er sich durch den umfangreichen Band ackert, auswählen kann, was ihn interessiert und was nicht. Zumal die Themen, Themenstellungen, Methoden und Ergebnisse höchst unterschiedlich sind. Problematisch am Vorwort ist nur der Versuch, eine operationale Definition des Begriffs des Imaginären zu geben. Ob sich die Beiträger an Castoriadis, Derrida, Lacan, Kristeva oder Iser orientiert haben, in vielen Fällen bleibt ihr Theoretisieren diffus, mitunter hypertroph im Vergleich zu dem, was sie in der Folge an Analysen zu bieten haben, manchmal auch selbstgefällig.

Im Verlauf der Lektüre des Buchs ergbit sich kein bestimmter Eindruck, was es denn mit dem Imaginären auf sich haben soll. Ein Beiträger meint gar, das Imaginäre könnte „das Eigentliche alles Literarischen sein“, und fügt hinzu, dass dies „verschiedentlich“ diskutiert werde. Der Begriff, den er selbst zur Anwendung bringt, ist aber „nur“ epochenspezifisch, das von ihm in den Blick gefasste Imaginäre erscheint als „Transformationsstufe des Symbolismus“. Zu guter Letzt setzt sich in diesem Band doch immer wieder eine Auffassung des Imaginären als Produktion der Einbildungskraft durch, die an den Symbolismus und Modernismus gebunden ist und eine wuchernde Bildlichkeit erzeugt, die den akademischen und sonstigen Deutungsexperten eine Menge Arbeit verschafft. „Modernismus“ ürbrigens so verstanden, wie der Begriff im hispanischen Bereich gebraucht wird (zum Beispiel mit Blick auf Rubén Darío). An dieser Schwierigkeit, sich auf kommunizierbare Begriffe zu einigen, erweist sich eine Problematik der Interdisziplinarität, auf die der vorliegende Sammelband setzt und die zahlreiche, manchmal überraschende Perspektiven und Kombinationsmöglichkeiten öffnet.

Dass die Begrifflichkeit des Imaginären immer wieder auf ältere, traditionell gewordene Begriffe wie die aus dem 18. Jahrhundert stammende Einbildungskraft und das Freudsche Phantasieren zurückverweist, mag ein Wunschdenken des Rezensenten sein, der sich in der Vielfalt zu orientieren versucht. Einer Vielfalt, die auch durch die kaum unter einen Hut zu bringenden Themen oder Gegenstände bedingt ist. Gustav Mahler, D’Annunzio und Debussy, Flaubert und Joyce, Sacher-Masoch und Proust, Nietzsche und Schnitzler (der eher am Rand vorkommt) – ein wahres Potpourri, das der Begriff „Fin de siècle“, der eigentlich noch enger ist als der der „Jahrhundertwende“, fassen muss. Einige Beiträger geben konventionelle, von der Autorenbiographie oder der Textgenese ausgehende Darstellungen (die musikgeschichtliche Position Mahlers, der sich selbst überbietende Realismus Flauberts). Andere kommen zu gewagten, unüberprüft bleibenden, um nicht zu sagen: hochtrabenden Behauptungen, indem sie sich in lacanistischer oder vermeintlich dekonstruktivistischer Begrifflichkeit suhlen: „Konsubstantionalität“, damit ist wohl das herkömmliche schöpferische Prinzip des Selbstausdrucks gemeint, und mit dem „Fading“, das hat der Rezensent schon bei Lacan nicht recht verstanden, vielleicht meint es ein Verblassen, eine Art Selbstzerstörung. Diese Vielfalt der Ansätze führt in einigen Fällen dazu, dass sich Beiträge widersprechen, oder genauer gesagt: quer zu einander stehen, so in bezug auf die postimpressionistischen Arbeiten Claude Monets. Der Rezensent gesteht, dass er dem weniger theoriehaltigen, dafür aber gegenstandsorientierten Beitrag wesentlich mehr abgewinnen kann als dem mit Theorie vollgepackten, aber in bezug auf den Gegenstand (Monet) geradezu indifferent wirkenden. Wer sich erwartet, eine wie auch immer geartete Bestimmung der Epoche um die Jahrhundertwende zu erfahren, wird von dem vorliegenden Band wohl enttäuscht werden. Tatsächlich gehört nur ein geringer Teil der ins Auge gefassten Werke zur Kunst des Fin de siècle. Bescheidener, aber zutreffender wäre eine numerische Eingrenzung gewesen, etwa von 1850 bis 1950, vom Flaubert der Madame Bovary bis zum reifen Thomas Mann.

Erkenntnisse zur Kunst der Jahrhundertwende muss man sich gleichsam zusammenklauben, das Buch wider den Strich lesen: eine Konstante scheint die Sakralisierung nach dem Tod Gottes zu sein, das Bedürfnis, mit künstlerischen Mitteln etwas Neues an die frei gewordene Stelle zu setzen; eine andere die symbolische (oder imaginäre) Überdeterminiserung auch dort, wo man zunächst keine Symbole erwartet, und die Unsicherheit, die Polyvalenz, in manchen Fällen geradezu die Zersplitterung des Symbolisierungsvorgangs; eine weitere die Spannung zwischen Künstlichkeit und Selbstreflexion einerseits, Faszination und Beunruhigung durch Nacktheit und Fleischlichkeit andererseits. Überraschende Parallelen ergeben sich durch den Vergleich der Zitate aus D’Annunzios „Le martyre de Saint-Sébastien“ und Oscar Wildes „Salomé“, die zwei der Beiträge enthalten. Erstaunlich ist auch, wie wenig die Autoren auf die Geschlechterproblematik eingehen, die die Künstler der Jahrhundertwende so sehr umgetrieben hat. Gabriele Brandstetter tut es in ihren Beobachtungen zur Körperdarstellung vor allem Tanzkunst – am Beispiel des Sebastiansdramas von D’Annunzio und Debussy, also, wenn man so will, mit Bezug auf ein „männliches“ Sujet, das allerdings die herkömmlichen Geschlechtszuschreibungen radikal in Frage zu stellen geeignet war.

Rainer Warning erklärt in seinem umfangreichen Beitrag zu Prousts „Recherche“ zum „Schwellentext“. Das ist gut nachvollziehbar, auch wenn diese Charakterisierung wohl auf die meisten bedeutenden Werke zutrifft, die sich in der Regel mit ihrer Epoche auseinandersetzen und sie zu überwinden trachten, statt einfach deren Vorgaben zu erfüllen. Proust auf der Schwelle zwischen der romantischen Verschmelzungssehnsucht und der zugehörigen „offiziellen“ Poetik der Erinnerung als Sicherung einer zeitlichen Kontinuität – und der inoffiziellen, aber drängenden, im Verlauf der Arbeit an der „Recherche“ in den Vordergrund drängenden Poetik der Diskontinuität, des Bruchs, des Begehrens, das stets unerfüllt bleiben muss. Mag sein, dass Warning hier, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Karl-Heinz Bohrers Ausführungen zur Ästhetik der Plötzlichkeit, einer akademischen Mode folgt, die allenthalben und zumeist gegen die bewussten Intentionen der Autoren Diskontinuität, Ich-Auflösung und Scheitern sehen wollen und damit oft genug die ins Auge gefassten Werke „modernisieren“ oder „postmodernisieren“. Das ändert nichts daran, dass Warnings Arbeit wichtige Aufschlüsse über Prousts Roman und seine Situierung in einem weit gefassten Kontext und im selben Atemzug ein Beispiel dafür gibt, dass ein ausgewogenes Verhältnis von theoretisierender Begriffsbildung und konkreter Gegenstandserschliessung möglich und vielleicht fruchtbarer ist als Ansätze, die nur das eine oder das andere leisten.

Christine Lubkoll (Hg.) Das Imaginäre des Fin de siècle
Ein Symposion für Gerhard Neumann.
Freiburg: Rombach, 2002.
519 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-7930-9272-0.

Rezension vom 20.09.2005

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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