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Das Haus der sterbenden Männer

Elisabeth Reichart

// Rezension von Beatrice Simonsen

Eine hochkomplizierte Textur mit ineinandergreifenden Erzählsträngen, die im Haus der sterbenden Männer zusammenlaufen, kennzeichnet den Roman von Elisabeth Reichart. Auf fast 400 Seiten ergründet die Autorin Motive wie Lüge und Bedrohung, Hass und Selbsthass, Mord und Tod, aber auch Mut und den Willen zu Überleben. In diesem dichten Geflecht von Geschichten und Erzählungen geht kaum ein Faden ins Leere, kunstvoll wird alles bis zum Ende zueinander geführt. Zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten – Viktoria und Antonia – stehen im Mittelpunkt. Obwohl Viktoria für Wahrheit und Antonia für Lüge steht, wird im Laufe der Handlung immer deutlicher, wie sehr sich ihrer beider Vergangenheiten in Motiven überschneiden und wie austauschbar ihre Biographien sind.

Viktoria, die Ich-Erzählerin, führt dieses Haus für sterbende Männer nahe der Donau, in dem sie ein „friedliches“ Sterben garantiert. Warum dies nur für Männer, nicht aber für Frauen zur Verfügung steht, liegt an Viktorias Haltung zur Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Die Frauen ihres Lebens waren geprägt durch Stärke ebenso wie durch Verrücktheit. Die Männer sind im Vergleich dazu ephemere Figuren, auch wenn der Lebensgefährte Josef noch zu Beginn etwas wie ihr Gleichgewicht vorspiegelt. Den Sterbenden stellt Viktoria junge, attraktive Krankenschwestern zur Seite, die den alten Männern ihre letzten Wünsche erfüllen sollen. Die Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit, mit der die „phantasielose“ Viktoria dieses Projekt betreibt, steht in krassem Gegensatz zur romantischen Idee des „friedlichen Todes“, die am Ende an der Realität menschlicher Psyche zerbricht. Viktoria flieht in einen Zustand der Auflösung, um sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft zu entkommen.

Antonia ist die Gegenspielerin Viktorias. Sie ist die unbeschwerte, wechselhafte Lügnerin, die Viktoria mit ihren Geschichten in eine Art Kokon einspinnt, in dem diese sich zuweilen wohl fühlt und wie gedächtnislos wird. Doch Antonias Lügenhaftigkeit entpuppt sich nichtsdestoweniger als Folge eines Kindheitstraumas, das sie ihr Leben lang verdrängt hat und durch vorgeblich mühelose Leichtigkeit von sich weist. Die Lebensgeschichten beider Frauen liefern immer mehr Hinweise darauf, dass sie eine ähnliche Vergangenheit abtragen, der sich jede auf ihre Weise stellt. Über viele Entwicklungsstufen persönlicher Annäherung zwischen diesen beiden Frauen entsteht so etwas wie eine Persönlichkeitsverwandlung bis hin zur Aneignung der einen durch die andere. Antonia, die Zeit ihres Lebens auf der Flucht war, bleibt im Haus an der Donau und stellt sich den Erinnerungen, die Viktoria ihr hinterlässt.

Elisabeth Reicharts Roman ist voll von Metaphern, die zu Beginn wie ein undurchdringlicher Urwald sind, symbolisiert durch den Donau-Urwald, in dem sich die beiden Frauen auf einer Wanderung verirren. In diesem Wald finden sich ebenso Hinweise auf ihre Vergangenheit wie auf ihre Zukunft, die sie anfangs noch nicht zu entschlüsseln vermögen. Im Folgenden werden diese versteckten Andeutungen auch für die LeserInnen immer klarer und die Undurchschaubarkeit des Lebens (und Sterbens) an der Donau erhellt sich durch die Zusammenführung angerissener Erzählstränge. Als Hintergrund dienen der Fluss, die Bootsfahrten, das singende Schilf, der Teich um das Haus, das nahe Schloss, die gehässigen Dorfbewohner, die Krähen als breites Assoziationsgeflecht von Kafka bis Bachmann („Haltet Abstand!“ S. 283), das in einer Rezension dieser Art allerhöchstens an- aber beileibe nicht ausinterpretiert werden kann.

Die Trägheit des Flusses, der Verwesungsgestank, der sich im Laufe des Romans breit macht, verlangsamt und vernebelt klares Denken. Seit Urzeiten haben sich hier die „Donausklaven“ angesiedelt, von denen Viktorias Großmutter nur voller Hass und Verachtung sprach. Allein kämpfte sie gegen Dummheit, Trägheit und Feigheit und beschwor die Enkelin: „du mußt alle Donausklaven überleben“ (S. 63). Mit dem Haus der sterbenden Männer provoziert Viktoria ihre Umgebung, es ist Kampfansage und Rückzug aus dem Leben zugleich, vielleicht sogar der Wunsch nach dem eigenen Tod. „Antonia gegenüber habe ich behauptet, ich würde die Männer lieben, aber in Wahrheit habe ich Angst vor ihnen, ihren Lügen, die alles zerstören. Bei den Sterbenden fühlte ich mich sicher, sie waren so hilflos, daß sogar ihre Lügen erträglich waren, Lügen, die nie mich betrafen, die nur ihre eigene Vergangenheit veränderten.“ (S. 263f.)

In Viktorias Biographie versteckt sich der Mut zur Auflehnung in der Person ihrer Großmutter, die gegen den Nationalsozialismus kämpfte. Antonia hat die Erinnerungen an den Vater, der als Dissident in Prag lebte, verdrängt. Beide Frauen sind Trägerinnen eines Erbes, das in tiefen Schichten des (Unter)Bewusstseins verborgen liegt. In Februarschatten hat Elisabeth Reichart dies packend und prägnant anhand einer Mutter-Tochter-Konstellation herausgearbeitet. In Das Haus der sterbenden Männer handelt es sich um eine wesentlich kompliziertere Konstruktion, die neben den beiden Protagonistinnen, die als wichtige Ideenträgerinnen fungieren, reich an Charakteren – jeder für sich Träger einer „Geschichte“ – ist. Manchmal verlieren sich die Erzählerinnen in den Erzählungen und Nebenerzählungen und plötzlich entsteht ein Loch in der Haupthandlung. Zum Beispiel, als Antonia in das Geheimnis des Sterbehauses eingeweiht wird, verwundert es, dass die sonst Wortgewandte keinerlei Reaktion zeigt. Dann scheint der Anspruch der Autorin auf Vielschichtigkeit in der Menge der Worte untergegangen zu sein.

Seit ihrem Debüt Februarschatten (1984) über nationalsozialistische Greueltaten in ihrer Heimat Oberösterreich setzt Elisabeth Reichart ihren Weg einer engagierten Autorin fort. Beharrlich widmet sie sich dem Aufdecken von Lügen und Lebenslügen, beharrlich sucht sie hinter der Wirklichkeit die Wahrheit zu fassen. Auch Sakkorausch oder Nachtmär zeigen menschliches Verhalten auf, durch das sich „die Gesellschaft“, sprich wir alle, mehr oder weniger schuldig macht. Die persönlichen Schatten, die jeder Mensch in seiner Biographie mit sich herumträgt und der Kampf gegen die Ohnmacht, diese zu besiegen, ist Thema ihres letzten Buches – auch diesmal also kein „angenehmes“ Buch.

Das Haus der sterbenden Männer.
Roman.
Salzburg, Wien: Otto Müller Verlag, 2005.
391 Seiten, gebunden.
ISBN 3-7013-1104-8.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 08.06.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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