#Roman

Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum

Albert Drach

// Rezension von Michael Rohrwasser

Als fünfter Band der seit 2002 im Wiener Zsolnay-Verlag erscheinenden Drach-Werkausgabe ist nun Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum erschienen. Drach, Jahrgang 1902, hat seinen ersten Roman 1939 im französischen Exil geschrieben, nach eigenen Angaben in Nizza, auf dem Boulevard Gambetta, in einer Zeitspanne von fünf Monaten. Das große Protokoll erlitt sechzehn Ablehnungen durch Verlage und erschien erst fünfundzwanzig Jahre später, 1964, im Verlag Albert Langen – Georg Müller, dann freilich gleich als erster Band einer auf acht Bände konzipierten Werkausgabe.

Es ist dies der einmalige Fall, dass die Publikationsgeschichte eines 62jährigen Autors mit einer Werkedition einsetzt. Drachs Erzählung über die Entstehung des Großen Protokolls setzt uns aber nicht wirklich ins Bild, was für ein Buch wir vor uns haben: Ist Das große Protokoll noch ein Werk der österreichischen Exilliteratur oder bereits eines der Nachkriegsliteratur? Die letzten Seiten des Romans jedenfalls wurden erst nach dem Exil niedergeschrieben. In der vorliegenden Edition, die vorbildlich genau und gewissenhaft ist (man erkennt dies an dem seltenen Satz: „wir wissen es nicht“ [S. 321]), wird die Textgenese ausführlich dargestellt. In seinem Tagebuchroman Das Beileid hält Drach fest, dass er dem ersten Manuskript einen französischen Titel gab: „Le procès verbal“ – „mehr als den Titel wußte ich nicht auf Französisch und war doch vorerst entschlossen, das ganze Buch in dieser Sprache zu schreiben“. Das Originalmanuskript ist nicht mehr erhalten, ebenso sind einige Fortschreibungen verlorengegangen, aber im Nachlaß Drachs fanden sich zwei undatierte Typoskripte des Romans, vermutlich Abschriften aus den Jahren 1946 bis 1948. Drach erwog barocke Titel wie „Zwetschkenbaum als Baum und als Jude ist Gegenstand dieses Aktenstücks“ oder, in pathetischer Kürze: „Das Ächzen im Zwetschkenbaum“. Die Herausgeber wissen auch, daß Viktor Matejka, kommunistischer Stadtrat in Wien und einer der wenigen österreichischen Politiker, die sich aktiv für die Rückkehr jüdischer Mitbürger eingesetzt haben, den Roman 1948 unter dem Titel „Zwetschkenbaum gegen Zwetschkenbaum“ dem Berliner Ullstein-Verlag angeboten hat.

Erzählt wird die Geschichte eines jungen galizischen Juden, geboren in Brody, der am Ende des Ersten Weltkriegs, vertrieben von den mörderischen Pogromen, in einem Dorf in der Nähe von Wien landet und durch den Diebstahl einiger Zwetschken (Mundraub) in die Räder der österreichischen Justiz gerät. Das unaufhaltsam arbeitende Räderwerk wird vorangetrieben von denen, die Zwetschkenbaum übel gesinnt sind, aber auch von den wenigen, die ihm helfen wollen. Er beginnt sich auf schmerzhafte Weise zu assimilieren. Er lernt lesen, schreiben und tanzen, liest statt dem Talmud Goethe und Schiller, und wie der biblische Samson verliert er durch Frauenhand seine Schläfenlocke. Schmul Zwetschkenbaum gewöhnt sich daran, aus verkaufsförderlichen Gründen sich Sam zu nennen. Am Ende ist aus dem armen, etwas einfältigen Talmudschüler ein veritabler Verbrecher geworden.

Aber kein einfühlsamer älterer Herr, kein allwissender Erzähler macht uns mit der Lebensgeschichte des Schmul Leib Zwetschkenbaum vertraut, sondern eine Stimme, die vom ersten Satz an unser Misstrauen weckt. Sie berichtet umständlich und abschweifend, als wäre sie inspiriert von der Sprachlosigkeit des Verhafteten. Denn dieser lässt wortlos die Mißhandlungen seiner Mitgefangenen und der Verhörer über sich ergehen. Gewissermaßen gegen die bösen Absichten des Protokollanten nehmen wir Züge einer Passionsgeschichte wahr, währenddessen der Protokollant uns einfühlsam erklärt, wie es zu den Misshandlungen kommen konnte:
Der Protokollant bedient sich einer Fülle von biblischen Anspielungen und Bildern, die von der Kain-und-Abel-Geschichte bis zu Samson, dem verlorenen Sohn und dem verdorrten Feigenbaum aus dem Markus-Evangelium reichen. Auch auf die Geschichte Hiobs wird ausführlich verwiesen, wobei sich hier ein heimliches Zwiegespräch mit Joseph Roths Hiob-Roman (1930) verbergen mag, zumal Zwetschkenbaums Geschwister ähnliche Schicksale ertragen müssen wie die Kinder Mendels. Ob Hiob oder Ahasver: Drach pflegte diese und ähnliche Wiedererkennungswünsche unfreundlich vom Schreibtisch zu wischen. Zwetschkenbaums Schicksal wird anfangs in immer kräftigeren Farben mit der Passionsgeschichte gleichgesetzt, ja die Analogien gehen so weit, dass der Protokollant selbst mitunter in einen biblischen Ton einfällt. Doch die Züge einer Passionsgeschichte, die den ersten Teil des Großen Protokolls prägen, versickern, und am Ende liefert uns dieses Protokoll eine groteske crime and suspense-story, die schließlich dort endet, wo sie begonnen hat: unter einem Zwetschkenbaum.

Das ganze Protokoll entfaltet das Panorama des rassischen Antisemitismus in der Zeit des Ersten Weltkriegs, dessen besondere Qualität die Selbstverständlichkeit ist, mit welcher der antisemitische Affekt sich äußert, von den Gefängnisinsassen bis zu den Aufsehern, von den Insassen der Irrenanstalt bis hin zu den Ärzten; ja auch die Räterevolutionäre sind nicht frei davon. Es geht um eine Feindseligkeit, die sich niemandem erklären und nichts rechtfertigen muss, und um eine Gewissheit, die auch dem letzten Zausel das Gefühl rassischer Überlegenheit verleiht. Ein besonderes Gewicht bekommen hier die Brandstiftungen, deren man den Juden verdächtigt, weil sie von den Antisemiten als Racheakt des Gedemütigten gedeutet werden. Sie zeugen von der Angst vor dem sich wehrenden Unterdrückten, die neuerliche Unterdrückung herausfordert. Und das Große Protokoll macht immer wieder sinnfällig, wie eng Schmähung und Tat verschwistert sind.

Die Weitschweifigkeit des Protokollanten und die Vielzahl der integrierten Berichte summieren sich nicht zum Facettenreichtum oder zur Perspektivenvielfalt. Der Protokollant hat es nicht auf Totalität abgesehen, er ist kein gütiger und allwissender Gottvater, auch wenn er hinter Türen zu schauen vermag und selbst von den Träumen des Angeklagten weiß, auch wenn er weit in die Zukunft schaut und beispielsweise davon weiß, dass der Wilddieb Punzler sehr viel später „SS-Sturmführer“ werden wird. Seine unablässige Beobachtung des Opfers gilt nicht der Sorge, uns ein getreues Bild zu vermitteln, sein Protokoll ist nicht nur Ausdruck eines professionellen Misstrauens, sondern es verrät eine boshafte Lust. Dem Protokollanten geht es eher um die Bestätigungen von bereits artikulierten Verdächtigungen, um Insinuationen (in der Regel um die bösartigsten), und um ein Anzweifeln der Aussagen des Angeklagten, das in dem berüchtigten Wort „angeblich“ seine Formel findet, kurz: es geht dem Protokollanten um Degradierung und Zerstörung jener Person, die er „der Prozessgegenständliche“ nennt. Die Misshandlungen werden mit barbarischer Gemütlichkeit zu Protokoll genommen. Der Leser findet sich im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens wieder, in dem der Schuldspruch bereits feststeht, zu dessen Vorbereitung aber die Indizien gesammelt werden, doch nur die belastenden. Der Leser wird konfrontiert mit einer Sprache, die dem Gegenstand ihrer Beschreibung mit Abscheu begegnet und sich immer weiter von ihm entfernt. Statt Objektivierung geht es um eine Anstrengung der Distanzierung und der Destruktion, um ein Protokoll gegen Zwetschkenbaum. Das Protokoll macht Zwetschkenbaum zu einer Projektionsfigur, bei der die Leser die Lücken des Bildes zu schließen versuchen, denn es lässt viele Fragen offen, nicht nur solche nach dem Protagonisten, sondern auch, ob Zwetschkenbaum wirklich den Mundraub begangen hat, wer die Brände gelegt hat; die gelegt zu haben er sich bezichtigt, vor allem aber wird der Verdacht genährt, dass der Bruder des Zwetschkenbaum gar nicht tot ist, sondern am Ende wiederaufersteht in dem hakenkreuztragenden Finanzmann.

Die Protokollsprache des Romans hat einen Stachel, der mit fortgesetzter Lektüre sich immer deutlicher, und das heißt: schmerzlicher offenbart. Der Stachel besteht in dem teuflischen Vergnügen, das dem Leser bereitet wird. Denn das Protokoll will uns zum Lachen verführen, und dies ist nicht länger die Meisterschaft des Protokollanten, sondern die des Autors Drach. Zitate sind hier nur wenig beweiskräftig, weil es um einen Langzeiteffekt geht, der erst nach vielen Seiten einsetzt. Es gibt eine kaum verborgene Lust des Autors, seine Leser in die höchst unerfreuliche Lage zu führen, auch noch über einen bösartigen antisemitischen Witz zu lachen, und uns so mit dem Protokollanten ins heimliche Einvernehmen zu setzen. Am Ende ist uns Zwetschkenbaum abhanden gekommen, selbst als Opfer eines omnipotenten mörderischen Systems. Dem hat Drach später in einem Interview die Formel gegeben: „Der Zynismus ist ein Anwendungsfall der Ironie“. Zu unserer Beruhigung trägt sie nicht bei.

Albert Drach Das große Protokoll gegen Zwetschkenbaum
Roman.
Hg.: Bernhard Fetz, Eva Schobel.
Wien: Zsolnay, 2008.
336 S.; geb.
ISBN 978-3-552-05226-0.

Rezension vom 31.03.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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