#Lyrik

das grosse babel,n

Ferdinand Schmatz

// Rezension von Thomas Eder

Ferdinand Schmatz‘ Buch das grosse babel,n ist eine Um- und Neudichtung entlang ausgewählter Teile der Bibel (Buch Genesis, Psalmen, Apokalypse). Schmatz läßt die in der Vorlage angelegten Rede- und Sinnfiguren, ihre Motive und Themen in Form des großen Sprechgesangs zu sich kommen. Er behält den Ton und das Sujet verschiedener Bibelübersetzungen wie ein Phantom im Hinterkopf und im Ohr, wenn er im nach-babylonischen Zustand der Sprachenvielfalt sein Gedicht an die sinnlichen wie theoretischen Ursprünge des Zusammenhangs von Denken und Sprechen führt.

So geht z. B. die biblische Erschaffung der Welt mit der allmählichen Aneignung der Grammatik eine Kreuzung ein, oder es bildet die Verzweigung und Genealogie des biblischen Geschlechts das gedankliche Modell für eine verästelte dichterische Sprachverwendung (z. B. das 5. Buch der Genesis, das mit „Dies ist das Buch von Adams Geschlecht. Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes und schuf sie als Mann und Weib und segnete sie und gab ihnen den Namen Adam“ beginnt, wird bei Schmatz zum „buch vom menschengeschlecht: name, gestalt, / falsch passt sich der eine richtig an sie, / tut so als ob er wäre – die sache so wie, / und ohne vorbehalt ist gleich zur hand das: / könnte, / könnte eines des anderen sein, / geschlecht als etwas, zumindest bildnis, / weil sobald als möglich, sofort / es gleichnis abgibt“).

Was im grossen babel,n inhaltlich geschieht, ereignet sich auch auf der Ebene der sprachlichen Mittel (z. B. durch die forcierte Mehrdeutigkeit der Verse, oder dadurch, daß Redewendungen zugleich wörtlich und bildlich verstanden werden).

Ein zentrales Motiv in der Schmatzschen Arbeit ist die Entsprechung zwischen verzweigter Geschlechterfolge (daß sich die Geschlechter verzweigen nach Art eines Stammbaums) und einer Vielfalt von sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Schmatz schafft mit den Mitteln seiner Poetik dichterische Gegenstücke zu einigen philosophischen Überlegungen, die sich aus der Vorlage (z. B. den ersten Kapiteln der Genesis) ableiten lassen, wodurch jedoch nicht unterstellt werden soll, daß sich Schmatz‘ Gedichte oder die Dichtung allgemein in der Einlösung von Theorie erschöpfen würde. Es geht Schmatz auch nicht um eine Interpretation der Bibel oder um deren Exegese; genausowenig geht es ihm darum, die äußere Handlung der Bibel in eine gegenwärtige Sprache oder in ein anderes Milieu zu übertragen – der wohl bekannteste Versuch in diese Richtung, der zugleich dessen Hilflosigkeit zeigt, ist Wolfgang Teuschls Da Jesus und seine Hawara, in dem der Autor die Bibel im Wiener Milieu und Dialekt modelliert.

Schmatz‘ Dichten folgt dem Muster von Annähern und Entfernen, es ist ein Darüberwischen über die Vorlage, das diese kenntlich erhält, jedoch nicht deren detaillierte Kenntnis voraussetzt, um die neuen sprachlichen Gebilde zu verstehen. Keineswegs esoterisch, vielmehr exoterisch, allgemeinverständlich, weil Schmatz die Voraussetzungen des eigenen dichterischen Sprechens nicht im Dunkeln läßt, sondern aufhellt. Damit begegnet er einem generellen Vorwurf, der immer wieder gegen die Dichtung und speziell die Dichtung der Moderne erhoben worden ist: dem Vorwurf – oder auch nur der Charakteristik -, die moderne Dichtung sei dunkel, unverständlich, hermetisch; ganz im Gegenteil betont Schmatz, mit einem Wort von Reinhard Priessnitz, die Entschlüsselungsarbeit im Gedicht.

das grosse babel,n ist weder Parodie noch Travestie der Bibel (eine Parodie wäre es, den Ton beizubehalten und den Inhalt abzuändern, Travestie wäre, denselben Inhalt in anderen, meist derberen Formulierungen wiederzugeben; beides mit der Absicht, komische Effekte zu erzielen oder die Vorlage lächerlich zu machen; eine Sonderform ist die sogenannte „parodia sacra“, in der eine subtile Parodie des Erhabenen die Verfaßtheit dieses Erhabenen aus anderer Perspektive konturieren möchte, es sozusagen deutlich machen will, indem es den Blickpunkt auf das Thema und die Sprachverwendung der Vorlage außerhalb des engeren Rahmens setzt; mit einer solchen „parodia sacra“ ist ungefähr das, was im grossen babel,n vor sich geht, bezeichnet, es trifft es aber nicht ganz).

Dann gibt es in der Literaturwissenschaft einen Begriff, der zudem in den letzten 15 Jahren einigermaßen modisch gehandhabt worden ist, der sich für das Schmatzsche Vorgehen geradezu aufzudrängen scheint: den Begriff der Intertextualität; gemeint ist damit, grob gesagt, eine Bedeutung stiftende Beziehung zwischen Texten, wobei man sich das Vorgehen wie eine Art Ahnentradition vorstellen könnte: mit Textstellen, die auf andere Vorlagen anspielen, holt der Autor Elemente des anderen Werks in sein eigenes hinein (durch wörtliche Zitate, motivische Anspielungen etc.). Intertextualität ist in unterschiedlichem Begriffsumfang verwendet worden: auf der einen Seite als streng linguistisch faßbare Beschränkung auf ein kommunikativ-semiotisches Phänomen, auf der anderen Seite wurde dieser Begriff, gerade in der französischen Philosophie, popularisiert und internationalisiert: alles konnte plötzlich mit allem in Verbindung stehen, so daß die Annahme, tausend Texte seien im Grunde nur einer, mithin die Annahme eines unendlichen Texts (Hans-Jost Frey) nicht fern lag. Auch der Begriff der Intertextualität erschließt manche Momente vom grossen babel,n, ist aber doch insgesamt zu allgemein, um Schlüssiges über seine Spezifik auszusagen.

Im Prozeß des Dichtens treffen zwei unterschiedliche Schichten aufeinander: auf der einen Seite das dichtende Subjekt Schmatz mit seinem Begehren, seinen Wünschen, seiner Verfaßtheit (der Conditio humana?) und mit seinem poetischen Wissen um sprachliche Formen, um dichterische Intentionen vergangener Epochen, kurz: mit seinem umfassenden Wissen um die Geschichte der Dichtung; diese Ebene prallt – oder vielleicht: Schmatz läßt sie prallen – auf die mächtige Vorlage der Bibel mit ihrer umfassenden Geschichte (sei es ihrer Überlieferung, Übersetzung, ihrer Auslegung, Bearbeitung etc.). Was geschieht dabei: tritt die Vorlage in Schmatz einzelne Assoziationen los, die willkürlich sind? Also: liest Schmatz z. B. das Buch vom Menschengeschlecht, um zu ganz privaten gedanklichen Verknüpfungen zu kommen, die dann in ein Gedicht gemünzt werden? Ich glaube nicht, daß es Schmatz um private Assoziationen geht, die er aus dem externen Stimulus, aus der äußeren Reizquelle Bibel ableitet. Es geht ihm also nicht darum, die Vorlage durch seine subjektive, private Wahrnehmungsmaschinerie zu drehen und zu einem unentwirrbaren Gemenge zu verdunkeln, sondern im Gegenteil: er will im grossen babel,n einiges von dem, wie Sprache und Empfindung, wie Theorie und Sinnlichkeit, wie Dichtung und Erkenntnis zusammenhängen, anschaulich und nachvollziehbar machen. Es geht ihm nicht um Assoziationen, sondern, psychologisch gesprochen, um Gestalten. (Das soll nicht heißen, daß eine Erklärung aus dem Feld der Psychologie erschöpfend und einzig gültig wäre.)

Was aber sind solche Gestalten? Ihr Merkmal ist, grob gesagt, die Einheit einer Mannigfaltigkeit, deren eigenständige Gestaltqualität nicht auf die Qualitäten der Mannigfaltigkeit der Teile reduzierbar ist. Also im klassischen Beispiel Christian v. Ehrenfels‘, der den Begriff geprägt hat: Die Töne einer Melodie sind nach dem Prinzip der Melodie organisiert, wobei sich die Melodie nicht auf die Qualitäten der in ihr vorkommenden Töne reduzieren läßt. (Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, lautet die verkürzende, verschlagwortende Fassung von „Gestalt“.) In der Gestalt des Schmatzschen „babeln,s“ machen die Elemente der Vorlage (das sogenannte „ihm Fremde“) und die Einflüsse seines bisherigen Werks (das sogenannte „Eigene“) solche Teile aus, die im Zusammenprall des Dichtens unmittelbar verknüpft, nicht auf einzelne Assoziationen oder wörtliche Rudimente reduziert werden können.

Indem der Bezug zur biblischen Vorlage vom Zwang zu vordergründiger Erfindung und Inspiration befreit, ist das grosse babel,n die bisherige Summe von Schmatz‘ dichterischem Werk: seine poetische Gestaltung aller möglichen Formen der Erkenntnis und Empfindung hebt die historische Klage des Hieronymus darüber, daß wir die Bibel in Prosa lesen, auf – und löst eine umfassende, sozial und historisch wie ästhetisch relevante Vorstellung davon ein, was Dichtung ist und sein kann.

das grosse babel,n.
Lyrik.
Innsbruck: Haymon, 1999.
158 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85218-306-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 04.07.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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