#Roman

Das größere Wunder

Thomas Glavinic

// Rezension von Peter Clar

Wider die Nachvollziehbarkeit

Ein Mann, ein Berg, der „erste Leichnam“ als Zeichen des allgegenwärtigen Tods. Das größere Wunder, Thomas Glavinics neuer Roman, verspricht schon mit den ersten Zeilen große Spannung – ein Versprechen, welches er auf über 500 Seiten auch einzuhalten gedenkt. Und die Spannung sowie der, wenn auch nicht neue, so doch handwerklich sehr gut gemachte, Aufbau des Textes, ein Kapitel aus der erzählten Gegenwart wird von einem aus der Vergangenheit abgelöst, lässt den/die LeserIn das Buch nur ungern aus der Hand legen, obwohl oder gerade weil die Sätze kurze sind, die Dialoge wirken, als sprächen alle Personen gleich, als dächten das Kind Jonas und der Erwachsene Jonas, jener Mann, der im Basislager 1 des Mount Everest auf seinen Aufstieg (oder ist es der Tod?) wartet, in denselben Worten.

Doch das stört wenig bei einem Text, dessen Anliegen es nicht unbedingt ist, sprachlich Außergewöhnliches oder gar Experimentelles anzubieten, dessen Anliegen es auch nicht ist, alles aufzuklären, bei einem Text, dessen Spannung sich gerade dadurch herstellt, dass der Plot dort und da nicht ganz logisch erscheint, dass manche Wendung „hanebüchen“ daherkommt – ein großer Mafiaboss terrorisiert da ein kleines Dorf, tötet wegen falsch behandelter Zähne und ist doch irgendwie ein herzensguter Mensch, der ganz ohne Not Jonas bei sich aufnimmt, Jonas ist später ebenso zufällig am 11. September in New York, wie er zufällig Augenzeuge eines Bombenanschlags in Israel wird oder zufällig einem ebenso zwielichtigen wie einflussreichen Japaner in Tokio das Leben rettet.
Es geht hier eben, wie es bereits der Titel ankündigt, um das „Größere“ und nicht um Kleinigkeiten wie Nachvollziehbarkeit. Glavinics Schreiben erinnert darin ein wenig, zum Beispiel in der telepathischen Verbindung zwischen Jonas und seinem besten Freund Werner oder mit dem Einführen jenes Hauses, das die beiden Freunde geschenkt bekommen, dessen Zimmer sie aber nur nach und nach, zumeist mit vielen Jahren Abstand, betreten dürfen, an die Texte Murakamis oder auch an den magischen Realismus. Die Wendungen, die die Geschichte, vor allem jene des Heranwachsens Jonas‘ nimmt, sind oft nahezu absurd – und machen wohl gerade deshalb so viel Spaß.

Zu viel vom Inhalt, der uns in zwei Erzählsträngen aus der Sicht des Protagonisten Jonas präsentiert wird, soll hier nicht verraten, die Stränge aber kurz umrissen sein: Der eine Teil des Romans zeigt den unendlich reichen, erwachsenen Jonas am höchsten Berg der Welt. Festsitzend im Basislager wartet er mit einer Gruppe Gleichgesinnter auf den Aufstieg, ein Warten, das sowohl an die körperlichen wie auch an die geistigen Grenzen geht. Der Kampf gegen die unwirtliche Natur, die hier beschrieben wird, hat dabei ganz und gar nichts heroisches, Glavinic rechnet gnadenlos mit dem Extrembergsteigtourismus ab: Es wird gestohlen, getrunken, gestritten, die Umwelt „zugemüllt“, die Bergsteiger sind zum großen Teil unvorbereitete, besserwisserische Neureiche, ohne Gespür für den Berg oder die einheimischen Sherpas, bergsteigerische Tugenden, wie sie so gerne herbeizitiert werden, etwa die Gleichheit oder die Kameradschaft, existieren nicht. Wer das Geld hat, bestimmt auch hier oben die Regeln, wer das Geld nicht hat, versucht auch auf mehreren tausend Metern Höhe, dieses zu machen. Und Verunglückten zu helfen, zumal von einer anderen Expedition, ist keine Selbstverständlichkeit.

Der zweite Erzählstrang beschreibt, ab Kapitel 2 bis inklusive Kapitel 50 in jedem geraden Kapitel, die Kindheit und das Heranwachsen Jonas‘, inklusive einer sich immer stärker entwickelnden Leidenschaft, sich selbst in Gefahr zu begeben, seine Grenzen auszuloten. Begleitet wird Jonas dabei von seinem Schulkollegen und guten Freund Werner, seinem behinderten Zwillingsbruder Mike und von einer ganzen Armada an erwachsenen Wegbegleitern, nicht aber von seinem Vater, den er nie kennen gelernt hat, oder seiner alkoholkranken Mutter, die ihn und seinen Bruder als Volksschüler an Werners Großvater Picco weggeben hat. Das Heranwachsen ist alles andere als ein normales, Unterricht bekommen Jonas und Werner privat, jedes Jahr werden sie für mehrere Wochen auf Urlaub geschickt – ohne Wissen wohin oder wie lange, allerdings immer gut überwacht. Was hinter dieser Erziehung, die auch jeden noch so bösen Streich der beiden Buben ohne Konsequenzen lässt, für eine Idee steckt, erfährt man nicht, es geht ums „Größere“. Aber man erfährt, was sie bewirkt: Jonas wird als Erwachsener nicht nur alle materiellen, sondern auch jede Menge intellektuelle Fähigkeiten haben, so z. B. wird er mehrere Sprachen fließend sprechen, wobei auch hier der Text auf eine übernatürliche Lernfähigkeit zurückgreift, um Jonas‘ Vielsprachigkeit zu erklären.

Warum Jonas trotzdem nicht glücklich ist, was ihn antreibt, am Berg sein Leben zu riskieren – dass uns Glavinic als Lösung das größte aller Klischees schon von Beginn an andeutet, die immer schon vorbestimmte Liebe, ist vielleicht eine Schwäche des Romans – oder aber nur konsequent.

Thomas Glavinic Das größere Wunder
Roman.
München: Hanser, 2013.
528 S.; geb.
ISBN 978-3-446-24433-7.

Rezension vom 01.09.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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