Marie ist 18 Jahre alt, leidet an der Borderline-Störung und ist der felsenfesten Überzeugung, keinen Platz in der Welt zu haben, und dies lässt ihrer Ansicht nach nur einen einzigen Schluss zu: Selbstmord. Dies ist der Mittelpunkt ihrer Gedanken und ihres Lebens, all ihr Denken und Tun ist darauf ausgerichtet, wird beeinflusst von der Aussicht ihres nahenden, selbst herbeigeführten Todes. Schon einmal hat sie versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen, es aber nicht geschafft. Einem weiteren Versuch steht nur eines im Weg: ihr Therapeut, dem sie das Versprechen gegeben hat, noch ein Jahr durchzuhalten, damit er sie im Gegenzug nicht in eine Psychatrie einweist. Auch Emanuel, den Marie im Wartezimmer ebenjenes Therapeuten kennenlernt, denkt an Selbstmord, wenngleich auch aus anderen Gründen: Er hat aufgrund eines Hirntumors nur noch wenige Wochen zu leben und möchte, bevor der Krebs neben seinem Körper auch noch seinen Geist infiltriert, selbst über die Art seines Ablebens entscheiden, und er braucht Maries Hilfe, um, wie er sagt, die Furcht vor dem Tod zu verlieren. Doch in demselben Grad wie Emanuel sich zusehends mit seinem nahenden (Frei-)Tod arrangiert, verliert Marie die Angst vor dem Leben, sodass ihr Plan, gemeinsam mit Emanuel zu sterben, immer unwahrscheinlicher wird.
Sandra Weihs verzichtet in ihrem Roman (beinahe) gänzlich auf Sentimentalitäten, Psychologisierungen und Verallgemeinerungen, obwohl die Handlung, die man in ähnlichen Varianten vielleicht schon gehört, gelesen oder gesehen hat, genug Raum dafür bieten würde. Der Kunstgriff ist, dass sie Marie selbst als Ich-Erzählerin zu Wort kommen und ihre Geschichte erzählen lässt: Marie hat, den nahenden Selbstmord vor Augen, absolut nichts zu verlieren, und ihre arrogante Haltung gegenüber ihrer Umwelt und der menschlichen Existenz an sich spiegelt sich auch in ihrer Sprache wider, die unverblümt und direkt daherkommt – ganz egal, ob sie nun Emanuel triftige Gründe für einen Selbstmord darlegt, ihre eigene Weltanschauung reflektiert oder sich mal wieder über die Menschheit und deren Scheinheiligkeit auskotzt. Dass ihre Helden Kurt Cobain und Emil Cioran sind, ein ebenso radikaler wie mittlerweile vergessener Philosoph des letzten Jahrhunderts, der unter anderem ein Werk mit dem Titel Vom Nachteil, geboren zu sein veröffentlicht hat, kommt nicht von ungefähr.
Weihs ist mit ihrem Debut Das grenzenlose Und ein ausgezeichneter Roman gelungen, der die Geschichte einer Lebensmüden und eines Todkranken schonungslos erzählt, ohne zu dramatisieren, ohne falsche Sentimentalitäten oder unangebrachte Belehrungen, und der trotz des schwierigen Themas auch immer wieder zum Lachen ermutigt – vor allem durch die Gespräche zwischen Marie und ihrem herrlich unkonventionellen, fast schon schamlosen Therapeuten Willi, der seiner Patientin in Sachen Zynismus und Sarkasmus in Nichts nachsteht. Nicht zuletzt stellt der Roman auch sehr interessante Fragen, die sich vor allem durch die Gegenüberstellung der beiden Protagonisten ergeben – Marie, die leben kann, aber nicht will, und Emanuel, der leben möchte, aber nicht darf – und die sich so ähnlich auch in Camus‘ Der Mythos von Sisyphos, der einflussreichsten philosophischen Abhandlung über den Selbstmord und dessen Legitimierung, finden lassen. Dort heißt es unter anderem: „Wenn man unter diesem drückenden Himmel lebt, muss man entweder fliehen oder bleiben. Im ersten Fall handelt es sich darum zu wissen, wie man flieht, im zweiten, warum man bleibt.“ Am Ende dieser Geschichte wissen es beide: Emanuel, wie er flieht, und Marie, warum sie bleibt.