#Roman

Das Grab von Ivan Lendl

Paul Ferstl

// Rezension von Beatrice Simonsen

Tempo- und spannungsreich führt der vielseitige Paul Ferstl die Leserin in seinem dritten Roman über Berg und Tal auf schlechten Straßen bis nach Odessa. Leider, möchte man sagen, gewinnt das Buch wegen des Kriegsgeschehens in der Ukraine an Aktualität. Es geht um österreichische Auslandszivildiener, die bei Hilfsprojekten in Rumänien eingesetzt werden. Dort sorgt nur eine fadenscheinige Infrastruktur für sie und bald fühlen sich manche von den Verhältnissen überfordert. Aber der Reihe nach.

Der sympathische junge Held des Romans ist Pich, ein für den Auslandszivildienst angeheuerter Zimmermann. Froh, dem Elternhaus in der tieferen Steiermark zu entkommen (Dach über dem Kopf, Essen, Sauberkeit, Arbeitsmoral / 95), springt er mit seinem neu erworbenen Opel Corsa (tapferes Auto / 36) auf die E 68 auf („aufspringen“ ist ebenfalls ein Zitat). Von seinem Kollegen Ivan lernt er, dass man der Straße besser eine Flasche Bier (Ursus, Murauer) opfert, bevor es zu spät ist.

Am Beginn der in scharfe Vor- und Rückblenden geschnittenen Handlung steht ein Unfall. Ivan ist beim Bau von Hütten für rumänische Überschwemmungsopfer tödlich verunglückt. Ein dummer Zufall. Das Ergebnis eines allgemeinen Besäufnisses. Für das Begräbnis will aber niemand aufkommen: Geld ist nicht da, und, wie sich herausstellt, auch keine Versicherung. Also gräbt Pich mit anderen Freiwilligen das Grab für Ivan Lendl, der eigentlich Peter heißt. Als seine Schwester Ivanka (eigentlich Martina) kommt, muss Pich sich ihren Fragen stellen. Was ist schief gelaufen in dieser Gemeinschaft, der sich Helfer wie Profiteure verschrieben haben?

Unterwegs nach Siebenbürgen, durch Moldawien, in die Ukraine, an die Donau und in die Karpaten machen wir mit Männern verschiedener Altersgruppen Bekanntschaft, die aus unterschiedlicher Motivation an den Hilfsprojekten mitarbeiten. Die Mehrheit: „Entwicklungshilfetouristen auf Gutes-Tun-Safari“ (110) wie Pich mit Zivildienerstolz bemerkt. Daneben die Kollegen, die wie Ivan Spitznamen tragen: Bobby, ein hyperaktiver Antialkoholiker, Dr. Richard, ein Praktiker mit Bodenhaftung, Stefan, ein ironischer Wanderprediger, Keanu Reeves, ein orientierungsloser Maturant. Und Pich selbst? Einer mit besonderen Antennen für seine Mitmenschen. Allesamt eine Horde unerfahrener junger Menschen, die, auf verschiedene Hilfsprojekte verteilt, sich selbst überlassen werden. Nur Ivan greift auf mehr Erfahrung zurück und nützt diese zu seinem eigenen Vorteil. Kurz bevor der Unfall passiert, erfährt Pich von einem Vorfall zwischen seinen Kollegen, der ihm an die Nieren geht.

Was als unbekümmertes Abenteuer beginnt, schlägt bald in unangenehme Abhängigkeiten um. Schwere Arbeit einerseits und sinnloses Nichtstun andererseits, omnipräsente Bierkisten und starke Unterbezahlung wirken sich demoralisierend aus. Alkohol ist das Allheilmittel gegen unwürdige Unterkünfte, Sprachlosigkeit, Missbrauch und Inkompetenz. Die Bürgermeister, Baustellenleiter und Chefs, die Orientierung geben sollten, entschlagen sich der Verantwortung, lehren Eigennutz und Wegschauen. Die vielen Fragen, die in diesem Umfeld auftauchen, bündeln sich in einer: Wer bietet den jungen Leuten Schutz auf dem ungewissen Weg in die Zukunft? Die Leserin ist mit Pich auf der Suche nach einer Antwort. Er scheint alles richtig zu machen. Er ist derjenige, der Verantwortung übernimmt, frei nach dem literarischen Motto des Romans, einem Zitat von Bob Dylan: „I’ll give ya shelter from the storm“.

Ivans Schwester wird zu Pichs ständiger Begleiterin. Sie ist wie ein Spiegel, die Einzige, die echte Fragen stellt und echte Antworten gibt (Worte waren wie Markierungen, man lief ihnen nach, dann kam man irgendwo an. / 142). Widersprüchlich präsent und fast unsichtbar bleibt sie an seiner Seite, wortkarg und wortstark. Starrköpfig gibt sie nicht auf, Pich dazu zu zwingen, in den Spiegel zu schauen. Ist er in seinem Verantwortungsbewusstsein doch einen Schritt zu weit gegangen? In immer neuen Vor- und Rückblenden führt der Autor die Leserin näher an seine Figuren heran, gibt Blicke frei, kehrt Vermutungen um, ändert die Perspektive. Spannend, wie Stichworte (Schneematsch, Kälte, Rollsplitt und Diesel / 112) für die Beschreibung der Welt genügen und wie banale, manchmal in Dialekt angedeutete Dialoge („Hallo?“ „Berger.“ „Ja eh. Pich.“ / 200) mehr als ausschweifende Schilderungen sagen. Schräge Metaphern (Das Wissen sprang immer hoch, wie ein Delphin aus einem Grab. / 8 oder: Ein Loch öffnete sich in Pichs Magen und begann in strudelndem Kreis an der Welt zu saugen. / 139) verströmen gezügelte Lebenskraft voll von Wünschen nach einem guten Leben. Paul Ferstl ist ein mitreißender Roman gelungen, der den Spannungsbogen vom ersten bis zum letzten Wort hält.

Paul Ferstl Das Grab von Ivan Lendl
Roman.
Wien: Milena, 2022.
294 S.; geb.
ISBN 978-3-903184-85-5.

Rezension vom 18.04.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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