#Lyrik

Das Gesicht in den Wolken

Klaus Reichert

// Rezension von Julia Zarbach

Nach den Lyrikbänden Kehllaute (Residenz, 1992) und Wär ich ein Seeheld (Jung und Jung, 2001) meldet sich der deutsche Anglist und Übersetzer Klaus Reichert mit Das Gesicht in den Wolken dichterisch zurück. Auch in diesem Gedichtband bleibt der Autor formal wie inhaltlich seinem traditionellen Poesie-Duktus treu. In einer zyklischen Struktur besingt er klassische Themen wie Liebe, Jahreszeiten, Natur oder seine Herkunft. Auf den ersten Blick erinnert Das Gesicht in den Wolken in Aufbau und Thematik stark an seinen Vorgänger Wär ich ein Seeheld. Doch bei näherer Betrachtung erkennt man, dass Reichert an mancher Stelle seines aktuellen Buches eine bislang ungeahnte Gefühlsintensität und sprachliche Dichte erreicht, die seine Wortkunst in einem neuen, feinstofflichen Glanz erstrahlen lässt.

Den Gedichtband gliedert Reichert in drei Teile, die die Geschichte von den Lebensstadien des Menschen, von der Kindheit bis hin ins fortschreitende Alter erzählen. Der erste Teil widmet sich vorwiegend der Erinnerung an Vergangenes, an die entbehrungsreiche Kindheit in der Nachkriegszeit und an die Familie. Es ist dieser erste Teil des Bandes, in dem man die großen Höhepunkte, Reicherts dichterische Glücksgriffe findet. Vor allem in der Hommage an seinen Großvater zeigt er sein poetisches Sprachgefühl. In Großvater schildert er in musischen, nie kitschigen Wortkreationen fragmentarisch ein Stück Kindheitserinnerung: „Lauter weitergegebene Leben. // Über ein halbes Jahrhundert her alles, aber / ich seh ihn noch vor mir, den Enkel, wie er / auf die beiden Blutstreifen starrt, aus dem Mund / unter dem Glasdeckel, wie er die Goldbrille // vermißte vor den Augen. Wie / süßlich roch es in der Kammer.“ Reichert zeigt in sensitiver Form wie Erinnerung funktioniert – assoziativ –, welch tiefe Spuren sie in unserem Gedächtnis hinterlässt.

Der zweite Teil des Buches spricht von der Mitte des Lebens, von der Liebe und Momenten der Leidenschaft „zwischen Wahnsinn und Licht“, wie es in dem Gedicht Da die kleine heißt, und über die magische Welt der Kinder. Die Unschuld von Kinderaugen beschreibt Klaus Reichert in Und Pustblume: „Da waren sie noch nicht, alle diese / ausgeschlagenen Wege, die du sahst / auf dem Bug eines Boots auf dem See. // Ein Vogelsgestöber von Träumen / verschließt deinen Mund.“ Und schließlich der dritte Teil des Bandes, der etwa die Gedichte Spätsommer, Müggelsee oder Herbst beinhaltet und von der Endlichkeit handelt, von dem nahenden Winter, der niemanden verschont, der für manchen früher beginnt, als ihm lieb ist: „Ich soll in den Winter umziehn, / hinausgelebt aus dem Sommer, / soll ich den Herbst überspringen, / die gelben Birnen.“

Es verwundert nicht, dass in diesem Aufbau, der von (Lebens-)Abschnitten handelt, Grenzen eine übergeordnete Rolle spielen. Im Laufe des Buches stellt sich heraus, dass Dualitäten, Übergänge und Übergangslosigkeit, Ende und Anfang nicht existieren. Vielmehr verwischen diese, lösen sich ineinander auf, erscheinen und müssen gleich darauf wieder vergehen. Dass alles Eins und gleichzeitig Nichts ist, wird in zahlreichen Variationen aufgenommen, anhand von Naturbeschreibungen etwa von Wind und Wolken, aber auch mit dem immer wiederkehrenden Motiv des Wassers: „Die Grenzen, wenn die Wellen sie schieben / in den Sand unsres Meers, dieser Saum, dieser Schaum, / der sich löst, der sich löst unterm Drängen / der nächsten Verschiebung.“ Da stellt sich die Frage nach dem, was bleibt, auch an den eigenen Spuren: „Grenzt ein Wort auch an mich, / daß es bleibt? Zieh ich / die Wortgrenzen anders?“ Die Antwort auf dieses existentielle Problem gibt ein anderes Gedicht, und zwar Rauschen, lauschen. Hier offenbart der Autor, dass alles Sichere nur vermeintlich ist, wir immer in die Vergänglichkeit hinein leben, aber genau diese träumerische Unsicherheit es ist, die unser Leben in einer prickelnden Daseins-Schwebe hält, denn: „(…) Nichts / ist fester gebaut als auf Sand.“

Das Gesicht in den Wolken präsentiert auch Gedichte, in denen die beruflichen Tätigkeiten Klaus Reicherts, der seit 2002 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist, einfließen. 2007 mit dem österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet, schreibt der Mayröcker-Herausgeber der Schriftstellerin ein Gedicht zu Ehren ihres 80. Geburtstags. Ebenso findet seine Übersetzungstätigkeit antiker Stoffe formal wie inhaltlich Widerhall in seiner Poesie – ein Aspekt, der leider einen nicht zu übersehenden Schatten über den sonst so gelungenen Lyrikband wirft. Stücke wie Von den Mythen, in dem Reichert die godwanische Tektonik besingt oder Gedichte, in denen sich Ikarus und Sappho tummeln wirken im Vergleich zu anderen unschön und verbraucht. Traditionsreiche Formen kommen in Spätsommer im Elsass, wo des Autors Versuch japanische Haikus nachzubilden misslingt oder in Adoneus gebrochen, in dem das antike Versmaß in gebrochener Form wiedergegeben wird, zur Anwendung.

Klaus Reicherts lyrische Gesten leben nicht von diesen archaischen Themen, sondern schöpfen ihre große Kraft alleine aus der poetischen Durchwanderung (s)eines Menschenlebens.

Das Gesicht in den Wolken.
Gedichte.
Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2009.
87 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3902497635.

Rezension vom 25.08.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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