#Roman

Das Geisterschiff

Egyd Gstättner

// Rezension von Alexander Peer

Die lange Reise ins Nichts
Viele Kunstschaffende erlangen erst gar keine Bekanntheit; sie zu vergessen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Anders verhält es sich bei Josef Maria Auchentaller. Der Maler war um die Jahrhundertwende einer der wichtigsten Protagonisten des Wiener Kunstlebens. Als einen von vielen Höhepunkten schafft Auchentaller den Fries Freude schöner Götterfunken vis-a-vis von Gustav Klimts Beethovenfries an den Wänden der Wiener Secession. Seine Tätigkeit für die Zeitschrift Ver Sacrum zeichnete ihn als einen prägenden Vertreter des Jugendstils aus. Doch mit seinem Umzug 1903 nach Grado begann sein Niedergang.

Die Wahrheit und die Wirklichkeit
Egyd Gstättner erzählt in seinem Roman jedoch nicht von den glanzvollen Jahren Auchentallers und seinem Aufstieg zu einem der Secessionisten. Er widmet sich vielmehr dem größeren zweiten Teil dieses Künstlerleben, einem Leben, das hauptsächlich im damals noch verschlafenen Grado stattfand und von Abschieden bestimmt zu sein schien. Dabei entwickelt Gstättner eine klug komponierte Fiction-in-Fact-Dramaturgie. Äußere Ereignisse und alle vorkommenden Personen sind eng an die Wirklichkeit gebunden. Die zentrale Figur jedoch, der erzählende Auchentaller selbst, ist notwendigerweise wesentlich ein Produkt der Imagination Gstättners. Verlässliche Belege zu Auchentallers Leben an der Adria gibt es kaum. Der Autor meinte in einem Interview mit der Kleinen Zeitung: „Was ich erfunden habe, habe ich immer genau an einer Bruchlinie der Realität erfunden.“

Im Seebad lebt er mit seiner aus wohlhabendem Elternhaus stammenden Frau Emma und den gemeinsamen Kindern Maria Josepha und Peter; in erster Linie erfolgte der Umzug, um die kränkelnde Maria Josepha durch die salzhaltige, gesunde Meeresluft zu kurieren. Der Architekt Julius Mayreder entwirft die Pension Fortino, in welcher Emma engagiert die Leitung inne hat, während Auchentaller sich selbstironisch als „Prinzgemahl“ bezeichnet und die meiste Zeit mit künstlerischen Projekten und später vorwiegend mit dem Sinnieren über den Tod verbringt. So entwirft Auchentaller 1903 Die tönenden Glocken und 1906 das Bild Seebad Grado. Österreichisches Küstenland, das als Motiv für eine Ansichtskarte bekannt wird. Der große Zuspruch allerdings, den er in Wien und zuvor in München genossen hat, bleibt aus. Zu weit weg vom Zentrum der Kunstwelt ist er, und er ist auch froh darüber, denn je weniger seine Kunst beachtet wird, umso vorlauter äußert sich in Auchentaller eine Stimme der Fluchens über die intrigante, inzestuöse Wiener Kunstmafia, wo einer dem anderen hilft und hofiert, während ein derart Talentierter wie Auchentaller selbst konsequent ignoriert wird. Dieser Zorn steigert sich mehr und mehr in den gut vier Jahrzehnten, die Auchentaller in Grado bis zu seinem Tod leben wird. Die zwei großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wirken hinein, bleiben jedoch peripher.
Zusätzlich gestalten sich die wenig erfolgversprechenden Fügungen tragisch. 1922 gingen einige von Auchentallers wichtigsten Werken auf der Überfahrt zu einer Ausstellung in Argentinien auf ungeklärte Weise verloren. Gestättner erzählt von der mutmaßlichen Hochstaplerin Maria Stromberg, die vorgibt, sie könne Auchentaller wieder zur Berühmtheit verhelfen, und eine Sammlung seiner Bilder mitnimmt, doch nichts als leere Versprechungen und schließlich eine unbezahlte Hotelrechnung hinterlässt. Hier zeigt sich viel von Auchentallers resignierender Befindlichkeit, wenn er sich selbst einredet, dass diese Bilder ohnedies nicht so bedeutend gewesen wären. Statt erbost zu kämpfen, nimmt seine larmoyante Lethargie zu und wechselt sich mit den Zornausbrüchen ab.

Woran sich erkennen lässt, dass hier Gstättner und nicht etwa Auchentaller erzählt, könnte formal am ehesten an der zuweilen saloppen, ironisierenden Diktion festgemacht werden, eine leicht sarkastische Haltung zur Welt, die in vielen Gstättner-Texten präsent ist.

Ein Trauma als Lebensthema
Die tief sitzende Verzweiflung ist allerdings nur zu einem Teil dem Ende als öffentlich beauftragter und gefeierter Künstler geschuldet. Der Selbstmord seiner Tochter Maria Josepha ist die eigentliche Traumatisierung, die den Mann bricht. Er kann diesen Verlust nicht verwinden, sondern führt immer wieder Zwiesprache mit der verlorenen Tochter. Wie wenig die Ehe mit Emma helfen kann, um die Trauer zu bewältigen, zeigt sich Auchentaller im hohen Alter, als er erkennen muss, dass beide eher nebeneinander als miteinander gelebt haben. Nicht einmal eine Affäre seiner Frau nimmt er tatsächlich wahr.
Gstättner hat ein großes Personal an maßgeblichen Persönlichkeiten nicht nur des Wiener Kunstlebens raffiniert um die im wesentlichen fiktionalisierte Figur Auchentallers drapiert. Die Fiktionalisierung entsteht eben dadurch, dass Gstättner ein Psychogramm Auchentallers entwirft, das als Erzählinstanz dienlich ist. Mit Arthur Schnitzler etwa führt Gstättners Auchentaller ein Gespräch über Vaterschaft und verlorene Töchter. Ob dieses Gespräch je geführt wurde, darf bezweifelt werden, aber der Realität entspricht, dass beide den Verlust der Tochter verkraften mussten. Das heißt im Klartext: Man muss eine Wirklichkeit erfinden, um die Wahrheit zu verstehen.
Allerdings kann man die Kritik äußern, dass zwanzig bis dreißig Seiten weniger Morbidität dem Gesamteindruck von Auchentallers Schicksal nichts genommen hätte, dem Roman allerdings eine Spur mehr Zugkraft verliehen hätte.
Es treten darin Maximilian Kurzweil, Otto Wagner, Gustav Klimt natürlich, die Autoren Egon Friedell, Franz Werfel und Arthur Conan Doyle – von Auchentaller und bestimmt nicht nur von ihm ob seiner markanten Bartwahl stets „Walross“ genannt – sowie viele mehr auf. Mitten unter ihnen Auchentaller. Besonders gelungen erscheint mir das Einbeziehen von Ettore Schmitz, besser bekannt unter dem Pseudonym Italo Svevo, der bis knapp vor seinem Tod unbekannt blieb und erst durch den Einfluss von James Joyce über den Umweg Paris späte Berühmtheit erlangte; mehr als sechzig Jahre ignoriert und dann zwei, drei Jahre kollektive Schulterklopferei. Der Roman Zeno Cosini (La coscienza di Zeno) gilt als einer der bahnbrechendsten Romane von Italiens klassischer Moderne. In Ettore sieht Auchentaller einen Seelenverwandten. Ebenfalls elegant eingebunden in die Romanhandlung ist der Gradeser Dichter Biagio Marin.

Das Geisterschiff wächst und ist voller verloren gegangener Kollegen, Mit- und Widersacher sowie gewollter als auch ungewollter Wegbegleiter. Gstättner erweist sich als Porträtmaler ganz so wie Auchentaller selbst, das Resultat ist eben keine Biografie, sondern ein bunter Künstlerroman.

Egyd Gstättner Das Geisterschiff
Künstlerroman.
Wien: Picus, 2013.
287 S.; geb.
ISBN 978-3-7117-2001-6.

Rezension vom 15.01.2014

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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