#Roman

Das flüssige Land

Raphaela Edelbauer

// Rezension von Katia Schwingshandl

Es überrascht nicht, Raphaela Edelbauers neuen Roman Das flüssige Land auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis zu finden, hat man sich einmal in ihre Romanwelt begeben. Die Nominierung setzt den geradezu lawinenartig hereinbrechenden Erfolg der jungen Autorin fort und zeigt, was für eine starke Faszination von ihrer gewissenhaft geplanten und verästelten Welt ausgeht. Bisher steht sie wohl ohne Vergleich da und hat aus diesem Grund schon beim Bachmannpreis 2018 KritikerInnen in ihren Bann gezogen und es schließlich geschafft, ein zuvor noch nicht existierendes Genre für sich zu beanspruchen – wenn dieser Roman denn auf ein Genre zu reduzieren ist.

Ihren speziellen Zugang zu bestimmten Themen mag Raphaela Edelbauers Hintergrund erklären: Sie hat Sprachkunst und Philosophie studiert. Dementsprechend wichtig ist es, zuvor auf den ungewöhnlichen theoretischen Unterbau zu verweisen, der dem Buch zugrundeliegt. Schon der Titel ist der erste wichtige Hinweis darauf, explizit erwähnt wird die „Traumzeit“ jedoch erst, als die Protagonistin Ruth auf der Suche nach dem offiziell inexistenten Ort Groß-Einland auf einen Maskenhändler trifft. Dieser erklärt Ruth das Konzept der Aborigines, demzufolge geistige und körperliche Welt sich in einer ewigen Schöpfungsgegenwart, der Traumzeit, zu einem Ort verbinden, an dem wir mit unseren Vorfahren in Kontakt treten können. Was die Ahnen in der Traumzeit tun, formt unsere Welt, genauer: unsere Landschaft. Wir wiederum können die Traumzeit verändern durch das, was wir tun. „Um uns herum [fließt] die Landschaft gerade so wie unsere Wahrnehmung – alles aus einem Guss. Somit wird die ganze Welt eigentlich Metapher.“ (S.38f)

Das Wissen um die Traumzeit ist eine Art Schlüssel zu allem, was weiter geschieht. Ruth entdeckt nämlich wirklich Groß-Einland, diese seltsame Ortschaft, in der ihre vor wenigen Tagen (oder Wochen?) bei einem Autounfall verunglückten Eltern aufgewachsen sind: „Wie viel Zeit zwischen dem Eintauchen in den Wald und dem Erreichen der Straße vergangen war, war unmöglich zu ermitteln. Als ich endlich wieder Asphalt befuhr, sah ich ein Ortsschild vor mir wie frisch errichtet aufragen: GROSS-EINLAND.“ (S.52) Dabei muss sie unvermeidlich auf das alles überschattende und alles unterhöhlende Loch stoßen, das das gesamte Dorf lähmt. (siehe Leseprobe)
Doch so rätselhaft dieses Loch selbst ist, noch größere Ungereimtheiten ergeben sich aus der Art und Weise, wie die Leute darüber sprechen. Manchmal wird da ein besonderes Wissen des Gesprächspartners vorausgesetzt, manchmal aber auch mit erschrockenem Blick mitten im Satz abgebrochen – denn Augen und Ohren sind überall. Deshalb beschränken sich die StadtbewohnerInnen meist darauf, hinter vorgehaltener Hand darüber zu munkeln, in der Öffentlichkeit wird es schlichtweg schöngeredet oder gleich total verschwiegen.
Schwester Elfriede zum Beispiel, eine Figur, die immer wieder auftaucht, versucht das Loch weitestgehend zu ignorieren. Das schmälert jedoch dessen Auswirkungen nicht. In einer Passage meint sie: >>“Mich ärgert ja selbst, dass es in mein Schlafzimmer regnet, aber ich übernachte derweil eben auf der Couch.“ Obwohl sie sich um eine positive Darstellung bemühte, hörte ich heraus, dass sie genau wusste, was da mit ihrem Haus geschah.<< (S.267)

Ruth packt die Neugier. Welches Geheimnis steckt hinter diesem Loch, das mit einer großen Schuld belastet zu sein scheint – oder gar selbst die Schuld ist? Das die Stadtbewohner zu diesem merkwürdigen Verhalten veranlasst und die Statik Groß-Einlands zum Wackeln bringt? Hier greift Edelbauer zu einem erzählerischen Kniff: Mit Ruth erschafft sie eine Person, die zwar zum Ort gehört, denn immerhin waren ihre Eltern Groß-Einländer, die aber andererseits zu Beginn genauso wenig über ihn weiß wie die Lesenden – und folglich ebenso Eindringling ist. Nach und nach entblößt sie detektivisch die Rätsel, nach und nach deckt sie auf, wie viele Tote dieses Loch bereits verschluckt hat und auf wie vielen Leichen die EinwohnerInnen ihre Häuser gebaut haben. Langsam sickert durch, dass das Loch gerade deshalb so omnipräsent ist, weil man so wenig wie möglich damit konfrontiert werden möchte.
Bevor es immer mehr Teile der Stadt in sich aufnimmt und verschlingt, wird die Physikerin Ruth von der Gräfin – dem alles überwachenden Stadtoberhaupt – beauftragt, das dringend benötigte Füllmittel für das Loch zu finden. Solange trippeln die EinwohnerInnen weiter vorsichtig über das Straßenpflaster, führen ihre Leben weiter, als ob nichts wäre, und entziehen sich, wenn nicht gerade der Boden unter ihren Füßen wegbricht, erfolgreich jeglicher Konfrontation. Auch wissen alle Menschen in Groß-Einland von den unter ihnen lebenden Mördern, ohne dass es sie stört – sie leben so fernab von moralischen Bewertungen, dass es beim Lesen manchmal absurd anmutet.

All diese Konsequenzen des Loches, die sich im Text langsam und subtil entfalten, kommen – man hat es sich schon gedacht – nicht von ungefähr. Raphaela Edelbauer hat hier eindrücklich eine große, wirksame Metapher für das Unaussprechliche erschaffen. Die Autorin selbst stammt aus Hinterbrühl, wo sich bis 1944 ein KZ Außenlager befunden hat, und das mit seiner Seegrotte eine untergründige Parallele zu Groß-Einland aufweist.

Während der Lektüre wünscht man sich manchmal, die Autorin stehe neben einem, um ein paar Fragen zu beantworten. So führen etwa manche Stränge ins Leere und ob der fast schon kriminalistisch aufbereiteten Rätsel erwartet man sich Auflösungen, die der Text in dieser Form einfach nicht bietet. Oder nicht bieten will. Am Ende ist dieses Buch nämlich genau das nicht, es ist keine Offenbarung von Ruth oder von Raphaela Edelbauer selbst, sondern es ist eine unheimliche und unheimlich präzise Metapher, die sich erst nach gegebener Zeit entfaltet. Auch wenn man schlussendlich mit dem einen oder anderen Fragezeichen zurückbleibt – dieser Text arbeitet im Kopf. Egal ob man Tage, Wochen oder Monate darin verschwunden war.

Raphaela Edelbauer Das flüssige Land
Roman.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2019.
350 S.; geb.
ISBN 978-3-608-96436-3.

Rezension vom 27.08.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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