#Roman

Das Fenster

Richard Obermayr

// Rezension von Gianna Zocco

Rezensionen beginnen oft mit einem Zitat, das kennzeichnend für das zu besprechende Werk ist und gleichzeitig dessen Thema, dessen Kern in konzentrierter Form enthält. Im Fall von Richard Obermayrs Das Fenster fällt es nicht schwer, solche Sätze zu finden, man hat geradezu das Gefühl, fast jeder Satz des Romans erfülle diese Bedingungen. Einer davon: „Eines Tages ist mir meine Vergangenheit zugelaufen wie ein Hund.“ (S.155)

 

Inwiefern nun enthält dieser Satz den Kern des Romans – und was lässt sich daraus schließen, dass es in Das Fenster von solchen Sätzen nur so wimmelt?
Beginnen wir mit Zweiterem: Das Fenster nennt sich im Untertitel „Roman“, doch entspricht es kaum der herkömmlichen Form eines Romans: Es fehlt eine klare Chronologie der Ereignisse, es fehlt ein Spannungsbogen, der zum Lesen motiviert, und eine Handlung lässt sich nur sehr schwer ausmachen. Angemessener wäre es daher vielleicht von Das Fenster als Prosawerk zu sprechen, ein Werk, das aus der Aneinanderreihung sprachlich fein ausgearbeiteter Motive besteht und in der beständig und leise vorgetragenen Wiederholung und Variation dieser manchmal fast meditativen Charakter annimmt.

Diese Form ist eng verknüpft mit dem Thema, der Fragestellung, die das Erzählen in Gang bringt: Ein namenloses Ich nimmt sich als sich selbst entfremdet wahr, kann keine Kohärenz im Verlauf seines Lebens ausmachen, und begibt sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit, um den Übergang, den Zeitpunkt der Loskoppelung der Vergangenheit von der Gegenwart auszumachen. Oder, genauer und passiver formuliert: Das Ich begibt sich nicht in einem gewollten, bewussten Akt auf eine Suche, es wird von der Vergangenheit gefunden, von Erinnerungen heimgesucht: „Eines Tages ist mir meine Vergangenheit zugelaufen wie ein Hund.“

Was kennzeichnet nun diese Vergangenheit? Von Wien und Paris – den Stationen des erwachsenen Ichs – werden wir in die oberösterreichische Provinz geführt, wo der Protagonist seine Kindheit verbrachte. Während des Lesens stehen wir gleichsam vor dem Haus dieser Kindheit, in dem die Zeit zum Stillstand gebracht worden ist, und versuchen durch Blicke in die Fensterscheiben, die jenen Blicken gleichen, die der Held gerne in Kaffeehäuser und Schaufenster wirft, nachzuvollziehen, was geschehen ist: Die Mutter des Erzählers, eine Klavierlehrerin, erscheint als melancholische, depressive Person, die vielleicht (so könnte sich ihr Schwärmen für die erst sehr spät zum Erfolg gekommene Sängerin Kathleen Ferrier erklären lassen) Größeres in ihrem Leben vorhatte, als die immer gleichen Fehler ihrer Klavierschülerinnen zu korrigieren. Der Vater ist da und doch nicht da, „ein Schatten“, wie es heißt, mit dem der Sohn, das Ich, manchmal auf die Jagd geht. Irgendwann in dieser einsamen, stillen Kindheit (in Das Fenster gibt es kaum einen Dialog) fällt ein Schuss, geschieht ein Verbrechen, begeht die Mutter Selbstmord – bis zum Schluss ist nicht ganz klar, ob das die richtige Interpretation ist.

Dieses Ereignis jedenfalls entreißt dem Erzähler sein altes Leben, stiehlt ihm seine Vergangenheit, belastet ihn mit Schuldgefühlen, führt dazu, dass er sein Leben nur noch als Zuschauer betrachten kann. Diesen Zustand schildert Das Fenster in zahlreichen Bildern und Analogien: Das Leben erscheint als Bühnenstück, Schachspiel oder Zirkus, das Ich als Schauspieler, als Theaterbesucher, der das Theater vorzeitig verlässt, und nicht zuletzt als Fenster-Blickender: Im Blick in die Fenster des Hauses der Kindheit spiegeln sich die nicht mehr einholbare Distanz zwischen gegenwärtigem und vergangenem Ich, die schwer deutbare Ausschnitthaftigkeit, in der die Vergangenheit nur noch zugänglich ist, und die verschiedenen Projektionen und Wunschvorstellungen, die von dem, was wirklich passiert ist, nicht mehr zu trennen sind.

Wie kann man einen solchen Zustand erzählen? Auch wenn die Lektüre von Das Fenster anstrengend ist und viel Geduld verlangt, so überzeugt doch die Weise, in der der Autor hier Form und Inhalt miteinander verbindet, in der er sich der Sprache (und auch einiger vom Erzähler zugegebener Lügen und „Verbesserungen“ der wahren Ereignisse) bedient, um eine in der Erinnerung nicht präsente Kohärenz zu erschaffen, woran er natürlich scheitert, wie die zahlreichen Lücken und Unklarheiten im Text bezeugen. „Schön“ oder „fesselnd“ sind sicher die falschen Worte, um die Lektüre von Das Fenster zu beschreiben, aber dank seiner sprachlichen Konsequenz und Genauigkeit beeindruckend und äußerst ungewöhnlich ist es in jedem Fall!

Richard Obermayr Das Fenster
Roman.
Salzburg, Wien: Jung und Jung, 2010.
268 S.; geb.
ISBN 978-3-902497-70-3.

Rezension vom 31.01.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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