Auf den ersten Blick scheint hier ein typischer Fall von Generationenclash vorzuliegen: Hanna, die Veteranin, trifft Michael, einen arbeitslosen Schauspieler, den Millennial. Es kann ohnehin kein Verstehen geben, da die gemeinsame Sprache fehlt, und doch bieten deren wechselseitige Stärken und Schwächen auch jenen Raum für Konflikte, der es zugleich erlaubt, Annäherung zuzulassen und Verstehen möglich zu machen.
Das erste Zusammentreffen der beiden entpuppt sich als Wiedersehen, Michaels Mutter ist der gemeinsame Nenner: Auslöser für das Ungleichgewicht in seinem Leben und Anlass zur lange aufgeschobenen Frage, was er wirklich bereit ist aufzugeben, ohne dabei sich selbst aufzugeben. Denn schließlich ist es doch „egal, was man aufgibt, man wird es ohnehin nicht los“ (S. 157).
Hanna, 80, nutzt ihre Chance selbst sehr spät, als sie endlich den jahrzehntelangen Lasten des Kümmerns und Pflegens entkommt. Verhaftet in ihrer Rolle als Mutter und Berufstätige ist sie selbst doch immer auf der Flucht vor ihrem eigenen Leben, indem sie sich mehr um fremde Kinder kümmert, als um ihre eigenen, von denen eines dann auch auf der Strecke bleibt. Gefangen in der Verpflichtung ihrer Generation, den Nachkommenden mehr Möglichkeiten zu bieten, kann sie sich auch im Alter nicht davon befreien und pflegt ihre eigene Mutter bis zu deren Tod zuhause. Dann erst bekommt sie Gelegenheit, über versäumte Möglichkeiten nachzudenken, und trifft die Entscheidung zu handeln. Warum sie es tut, erfährt ihre Umwelt erst am Ende, dass sie es tut, erlaubt ihr die plötzliche Freiheit, zum ersten Mal im Leben Entscheidungen nur für sich selbst treffen zu können.
Dabei hilft ihr ungewollt Michael, der, ebenfalls in einem Rollenspiel gefangen, unfähig ist, aus seiner inszenierten Welt auszubrechen. Er probt das Glücklichsein, die perfekte Darstellung will ihm jedoch nicht gelingen: „Vielleicht bin ich Schauspieler geworden, um mehr Möglichkeiten zu haben, wissen Sie? Das eigene Leben ist ja doch so beschränkt. Sicher, man hat tausende Möglichkeiten. Aber irgendwann steckt man doch in einer fest, wie sehr man auch strampelt.“ (S. 83) Der Hang zum Unglück ist bereits so verinnerlicht, dass wahre Beziehungen für ihn nicht mehr möglich sind. Seiner Sexualität selbst nicht ganz im Klaren, versucht er mit Hanna über seine jüngst gescheiterte Beziehung zu einem Mann zu sprechen, wobei er befürchtet, dass sich sein Bericht für sie als Suche nach der richtigen Frau darstellen muss. „Nicht immer ist das, was richtig ist, auch wahr.“ (S. 81) Mit dieser Feststellung erreicht Hanna Michael endlich und überwindet den scheinbaren Clash, als beide erkennen, dass sie sehr wohl dieselbe Sprache sprechen. So machen sie sich gemeinsam auf eine Reise, die Erinnerungen wecken, Fragen beantworten und Entscheidungen über Leben und Tod bringen wird.
Für die Wirkung des Inhalts ist es vorteilhaft, dass der Text weder mit außergewöhnlichen Sprachkonstruktionen noch mit exzentrischen Aktionen dramatische Wendungen erzeugt, darum wird auch die erste Vermutung des Lesers früh widerlegt, die ihn an eine skurril-romantische, schwarze Komödie à la Harold and Maude denken lassen.
Die Liste an literarischen Roadtrips als metaphorische Reisen in vergangene Innenleben ist lang, und doch büßt die doppelte Sinnsuche der Protagonisten in diesem Text nichts von seiner tiefgründigen Absicht und seinem Charme ein, denn die Spannung beruht zum Großteil auf den Ereignissen, die sich rundherum abspielen. In die Handlung verflochten sind intensive Dialoge, doch liefern die Sprechenden längst nicht auf alle Fragen passende Antworten. Die Leerstellen, die sich daraus ergeben, referieren auf Krisen innerhalb einzelner Familiengeschichten, die Unbezwingbarkeit des Alltags und die Unsicherheit, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der sämtliche Generationen, auch die ohne Kriegserfahrung, aus Überlebenden mit Narben und Beschädigungen bestehen.
Jürgen Bauer hat in seinem Debütroman viele Fragen aufgeworfen, die den Leser unweigerlich mit einer Selbstprüfung konfrontieren, doch stilisiert er sich damit nicht zum Propheten mit abgepackten Lösungsvorschlägen. In seinem „subtilen Humor“, wie anderswo steht, schwingt Traurigkeit und Nachdenklichkeit mit, und trotzdem sind darin weder Endzeitstimmung oder gar Hoffnungslosigkeit zu entdecken. Es ist ein gelungenes, lesenswertes Debüt, dessen erzeugte Bilder noch genügend Raum für das Wesentliche zwischen den Zeilen übrig lassen.