#Sachbuch

Das Andere nicht zu kurz kommen lassen

Stefan Alker

// Rezension von Kurt Ifkovits

Stefan Alker gliedert seine erste umfangreiche Monographie über den österreichischen Schriftsteller Gerhard Fritsch in drei Teile: das Werk im Kontext der Nachkriegszeit, Fritschs Wirken im Literaturbetrieb seiner Zeit und die Thematisierung des Sexuellen im Spätwerk. Schon aus der Anlage zeigt, daß der Verfasser von der Annahme ausgeht, Werk und Text seien bei Fritsch eng verschränkt.

Fritschs Werk scheint Widerständigkeit auf paradigmatische Weise eingeschrieben, er gilt als paradigmatischer Vertreter der österreichischen Literatur der 50er und 60er Jahre. Auch wenn er den oppositionellen Gestus mit anderen teilt, so stehen seine „spezifischen Textstrategien durchaus solitär“. (S. 2) Zudem gilt Fritsch als wichtiger Mentor und verantwortlich dafür, daß das reaktionäre Klima aufgebrochen wurde. Auch wenn Fritsch sein Leben lang unter dem Literaturbetrieb wortreich litt, so war er doch Akteur desselben, also nicht nur Opfer, sondern auch Macher der Umstände, unter denen er litt. Dieser Zwiespalt manifestiert sich auch in seinem Werk, wie Alker zeigt.

Fritschs literarische Anfänge, vorwiegend Lyrik, sind vom Kriegserlebnis mit seinen traumatischen Erfahrungen geprägt. Er entwirft darin das Bild einer beschädigten Generation, als deren Sprecher er sich versteht. Dennoch findet er keinen eigenen Ton. Zu austauschbar sind die Erlebnisse, war doch die eigene Geschichte die des (männlichen) Kollektivs. Die literarischen Einflüsse sind evident: Weinheber, Trakl, die Expressionisten, Brecht, von denen er sich im Laufe der Zeit (zum Teil) distanzieren sollte.

Fritschs institutionelle Anfänge fallen in den Umkreis von Hermann Hakel und Bruno Frei, also ein kommunistisch dominiertes Milieu. Er publizierte etwa in der Zeitschrift „Lynkeus“ und druckte erste bissige Glossen in der kommunistischen Wochenzeitung „Der Abend“. Die Loslösung aus diesem Umfeld erfolgte durch das Engagement des strammen Antikommunisten Hans Weigel, der Fritsch 1951 eine Stelle bei den Wiener Städtischen Bibliotheken besorgte, um ihn der Einflußsphäre des Kommunismus zu entziehen. Danach ist Fritschs politische Position kaum festmachbar. Aus eingestandenem Opportunismus („weil es bequemer war […] und weil ich eine Wohnung will“, S. 30) wurde er Mitglied der SPÖ, deren volksbildnerischer Tradition er sicher nahestand, was einen Schwenk zum katholischen Konservativismus nicht ausschloß.

Fritschs (ideologische) Spannweite, sein programmatisches „ja aber“ verwundert, ja irritierte ihn mitunter selbst. Als er zugleich an einer Festschrift für die SPÖ Ottakring wie einem Text für eine kirchliche Organisation (mit)arbeitet, notiert er in seinem Tagebuch: „Komisch: SPÖ und Stift Klosterneuburg. Aber so etwas mache ich gern. Heraus aus den zerbröckelnden Parteifestungen!“ (S. 32) Diese Distanznahme nach allen Seiten prädestinierte ihn zum Literaten der ersten Jahre der Zweiten Republik, zum Schriftsteller des Staatsvertrages. Diese Position war es auch, die es ihm ermöglichte, Aufnahme in fast sämtliche Literaturzeitschriften (und Anthologien) jener Jahre zu finden – von H. C. Artmanns Anthologie „Der Wiener Keller“ bis zu den staatlichen „Neuen Wegen“.

Bereits die zeitgenössische Kritik sprach einen Moment in Fritschs früher Lyrik an: sie sei ernst, schwer, von traditioneller Machart und moralisierend. Alker versucht nun in der Folge „die spezifische Schwere dieser Gedichte aufzuzeigen, die ihr Funktionieren ebenso bedingt, wie ihren Sitz im Leben des Autors und ihre zentrale Stelle im Betrieb von Zeitschriften und Anthologien.“ Die Schwere resultiert aus Fritschs Programm: Aufgabe der Dichtung sei Krisenbewältigung, allerdings mit einem persönlichem wie gesellschaftlichen Anspruch. Was avantgardistische Positionen ausschließt. Die Texte besitzen keine ästhetische Autonomie. Diese moralisierende Tendenz entsprach der Rezeptionserwartung seiner Generation, womit sich auch der relative Erfolg seiner frühen Lyrik erklären läßt. Das alles überschattende Kriegserlebnis wird zur Metapher für existentielle Fragen: die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft, der seinem Schicksal ausgelieferte Mensch, die Mitteilungsmöglichkeit dem Anderen gegenüber usw. Fritschs Lyrik ist selbstreflexiv, kreist um den Themenkreis Schweigen-Sprechen. Angesichts der ungeheuren Produktivität kann man mitunter von einem ‚geschwätzigen Schweigen‘ sprechen. Das Ankämpfen des Vielschreibers Fritsch gegen die Phrase führt konsequenterweise dazu, daß er seine frühe Lyrik später ablehnen sollte. Um aus dieser Sinnkrise zu gelangen, knüpfte Fritsch kurz an seine in den Nachkriegsjahren verlorene religiöse Zuversicht an, die er doch alsbald wieder verwerfen sollte.

Von besonderer Bedeutung ist Stefan Alkers Kapitel über „Moos auf den Steinen“, das nicht nur die Rezeption des bekanntesten und erfolgreichen Romans Gerhard Fritschs zusammenfaßt, sondern auch entschieden für eine Neulektüre des Textes plädiert. Gerade „Moos auf den Steinen“ sollte sich als zwiespältig erweisen, legte es seinen Autor doch auf ästhetische und ideologische Positionen fest, von denen er sich in der Folge nur schwer lösen konnte.
Die zeitgenössische Lesart war versöhnlich, an die große Vergangenheit Österreichs appellierend. Das kritische Potential des Textes wurde kaum beachtet. Heute unterstreicht die Kritik den zeitkritischen Gehalt, moniert jedoch die linkische Erzählweise ohne einen Zusammenhang herzustellen. Interessant sind die Deutungsverschiebungen. Einmal gilt „Moos auf den Steinen“ als Bestätigung des Habsburger-Mythos im Sinne Claudio Magris‘, das andere Mal als radikale Kulturkritik. Derzufolge sei das Alte im Roman nicht nur das Gute, sondern auch das Kaputte. Das Schloß wie seine Bewohner wurden durch Kriegshandlungen (deutscher wie sowjetischer Soldaten) zerstört, es ist somit eben nicht das Symbol einer heilen, sondern einer grausamen Vergangenheit. So gelesen heißt österreichisches Erbe in „Moos auf den Steinen“: Kontinuität zur Zeit des Nationalsozialismus. Dennoch: Auch in jenen Interpretationen, die den Text kulturkritisch sehen, bricht die Lesart als Idylle immer wieder durch.

Ein oft geäußerter Einwand gegen „Moos auf den Steinen“ war die Behauptung, die NS-Zeit bliebe darin ausgeblendet. Diesem Vorwurf begegnet Alker indem er nachweist, daß im Roman das Fortleben antisemitischer Tendenzen wie das Funktionieren von Verdrängungsstrategien thematisiert werden. Konkret an der Omnipräsenz von Kriegsschäden, an der Person Mehlmann als Musterbeispiel eines auf Verdrängung basierenden Karrieristen und an der Figur des Juden Lichtblau, der den von ihm erlebten Antisemitismus thematisiert.

Die Fehllektüren liegen, wie Alker belegt, im mitunter brüchig gewordenen aber vom Autor hochgehaltenen moralischen Programm begründet, das seinem Werk im Weg steht. Auch wenn er den Anspruch seiner Figuren als Scheinheiligkeit und Schwäche demontiert. „Petriks fortgesetztes Scheitern vor sich selbst, seine Schwäche und seine Verführbarkeit, und andererseits die selbst wiederum bedenkliche Macher-Pose Mehlmanns geben dem Roman bei aller Verklärung einen realistischen Einschlag und erlauben eine neue Lektüre im Hinblick auf ein differenziertes Selbstporträt des Autors bzw. auf seine Rolle in Privatleben und Literaturbetrieb.“ (S. 78)

Nicht nur Figuren, auch Versatzstücke des Österreich-Diskurses werden in dieser Art ironisiert und damit die Kritik an der späteren Vereinnahmung des Textes als Ode auf den Verfall ebenso eingeschrieben wie die Abrechnung mit seinen eigenen Anfängen. Gut zehn Jahre nach dem Erscheinen von „Moos auf den Steinen“ distanzierte sich Fritsch von der all zu großen Verbindlichkeit, der Sanftheit und dem Lyrismus des Romans.

Die Doppelfunktion der Person Fritsch als Literaturproduzent wie als Macher des Betriebes steht im Zentrum des dritten Kapitels der Studie. Vordergründig hat es den Anschein, als ob der Schriftsteller Fritsch dem Literaturfunktionär im Weg stand. Sein Klagen über diese Doppelexistenz scheint dies zu bestätigen, ebenso wie die Kündigung bei den Städtischen Bibliotheken im Jahr 1958, von der er sich viel versprach. Doch der Bruch war nur ein scheinbarer, zumal er in neue Abhängigkeiten geriet.

Gerade seine frühe Tätigkeit an den Städtischen Bibliotheken, wo Fortbildung und Bestandsbildung zu seinen Verantwortungsbereichen zählten, war mit seinem stark sozialethisch-pädagogisch ausgerichteten Literaturverständnis durchaus kompatibel. Er, der die Aufgabe des Autors in der Tradition der Lehrers und Mahners sah und die Bibliothekare im Kampf gegen ‚Schmutz und Schund‘-Literatur wappnete. Auch wenn es allmählich zu einer Abwendung von der Zeigefingerpädagogik kommen sollte, so bleibt Fritschs Literaturkonzept mit einer ethischen Forderung verknüpft.

Als Zeitschriftenherausgeber und Verlagsberater bei Müller und Stiasny war Fritsch ein begnadeter Netzwerker und Mentor. Betrachtet man seine Tätigkeit für den Stiasny-Verlag, wo er das Wiener Büro leitete und die Stiasny-Bücherei besorgte, so wird alsbald seine Anbindung an die Macht sichtbar.

Als vom Ministerium eingesetzter Redakteur der Zeitschrift „Wort in der Zeit“ wurde Fritschs staatstragende Rolle noch offensichtlicher. Seine Aufgabe war es, einen repräsentativen Querschnitt durch die aktuelle Produktion österreichischer Literatur zu bieten. Alsbald sah er sich Kritik ausgesetzt, zumal er durch die Koredaktion des konservativen Rudolf Henz eingeschränkt wurde. So verteidigte er seine kritischen Kollegen mit dem legendären Satz, er wolle „das Andere nicht zu kurz kommen lassen“. Sein Literaturverständnis war ein pluralistisches geworden, das auch die Avantgarde einschloß und letztlich zu seiner Entlassung führte. Seine Kompromißbereitschaft war auf die Dauer nicht zu halten.

In diesem Kontext sind Fritschs Arbeiten für das offizielle Österreich (z.B. für das Bundesheer oder den „Tag der Fahne“) von besonderem Interesse. Darin bemühte er sich durchaus um einen kritisch-produktiven Umgang mit dem österreichischen Erbe, wobei er sich gegen die bloß restaurative und unkritische Tradition stemmte. Wie sein Kampf gegen die touristisch vermarktbare „Fassadenkultur“ zeigt, hieß „Erbe“ für ihn eindeutig mehr als „Provinzialismus, Tertiärtrakelei, Steirerhüte“. (S. 129) Dennoch war seine Grundidee – Österreich als interpretatorisches Konstrukt mit der Literatur als notwendigem Werkzeug – durchaus kongruent mit dem offiziellen Österreich. So konnte er sich nicht nur an staatstragenden Veranstaltungen beteiligen, auch wenn er dabei durchaus die NS-Verdrängung ansprach.

Das letzte Kapitel stellt Fritschs Spätwerk ins Zentrum. Es ist radikaler, sarkastischer, verletzender, irritierender.
Während man früher dazu tendierte, einen Bruch in der Schreib- und Werthaltung zu konstatieren, überwiegt heute der Versuch, das Werk als Ganzes zu sehen. Auch deshalb, weil Alker erstmals auf mehrere Texte hinweist (bzw. hingewiesen hat), die als Bindeglieder gelten können. So tendiert man heute eher dazu, sein Spätwerk als ’steinigen‘ „Weg des Weiterschreibens, der permanenten, nicht immer freiwilligen Infragestellung und des wiederholten Neuansatzes“ (S. 141) zu beschreiben.

„Die Texte thematisieren transvestitischen Fetischismus und sadomasochistische Abhängigkeitsverhältnisse“. (S. 142) Themen, die dem Autor persönlich nicht fremd waren. Insofern sind diese verstörenden Texte auch als Befreiungsschlag zu sehen. Hier schließt sich der Kreis zu seinem Verständnis von Literatur als Lebenshilfe.

Interessanterweise sind Fritschs Schreibweisen gattungsspezifisch. Die vorwiegend dem Broterwerb dienenden Hörspiele werden oft auf Grund von Interventionen umgeändert. Lyrik geschieht eruptiv, in Ketten- und Kreisbewegungen, immer wieder neue Anläufe nehmend, fast wie in Trance. Die Arbeit an der Prosa bedeute hingegen Qual. Gerade mit dem Roman verbindet Fritsch höchste Ansprüche. Gegen Ende seines Lebens spricht er sich, an Doderer orientiert, für eine Reflexion der Erzählhaltung und -technik aus und verurteilt jeglichen Realismus. Ein Text müsse kritisch gegen sich selbst und sprachkritisch sein. Diese Sprachkritik ist auch Gesellschaftskritik, womit sich, bei aller Unterschiedlichkeit der literarischen Endprodukte, der Bogen zu dem in der Frühzeit propagierten gesellschaftlichen Anspruch schließt.

Dieser hohe Anspruch hatte seinen Preis: vieles wurde nicht publiziert, abgebrochen, blieb liegen etc. Der Text „Spießrutenlauf“ macht den Übergang vom Früh- zum Spätwerk verständlicher, nachvollziehbarer und zeigt, wie sehr die endgültige Textfassung den Widerständen des institutionellen Umfeldes geschuldet ist. Nachdem das Manuskript auf Grund der Heftigkeit der Darstellung der Sexualität abgelehnt worden war, reagierte Fritsch mit Radikalisierung. Gerade die Spielarten fetischistischer und sadomasochistischer Sexualität, die hier noch an einem Einzelfall durchgespielt werden, sollten in den folgenden Texten ausgeweitert werden. Die Generalthemen von „Moos auf den Steinen“ wie Individuum, (negative) Körperlichkeit und (angemessene) Kleidung werden in den späteren Romanen immer mehr radikalisiert. Kleidung ist bei Fritsch Machtinstrument, die Degradierung der männlichen Personen erfolgt durch Frauenkleider. Oft zwingt in Fritschs Texten eine dominante Frau das devote männliche Gegenüber zum Wechsel der Geschlechterrolle.

Die biographischen Muster lassen den Autor immer wieder durchscheinen: Thematisierung der Außenseiterposition, Probleme der Anpassung, unbefriedigte Sexualität und Transvestismus. Der literarische Text ist biographisch als Bewältigungsstrategie zu verstehen, aus textgenetischer Sicht wird ein Thema immer wieder variiert, umgeschichtet, bearbeitet; die erzähltheoretische Perspektive zeigt ein komplexes Spiel mit Zuschreibungen, Konstruktionen und Dekonstruktionen verschiedener Erzählhaltungen und -instanzen. Erklärter Zweck der fiktionalen Texte ist ein erkenntnistheoretischer. „Der Leser ist, gleich dem Autor, Phänomenen und ihren Ursachen auf der Spur, die sich entziehen und die zu erfassen der Text als Instrument dient.“ (S. 162)

Nachgelassene Notizen sprechen mitunter eine deutlichere Sprache als die publizierten Texte: Fritsch imaginierte sich weibliches Schreiben, für das er offenbar gerne selbst in Frauenkleider schlüpfte. Dem weiblichen Habitus schrieb er Empfindsamkeit und Intuitionsbereitschaft zu, beides sei ausschlaggebend für literarische Leistungen. Als Ideal propagierte er die geistige Bisexualität des Autors. Zugleich phantasierte er sich ein mythologisches Gefängnis als Ort des Schreibens.
Im Text „Meditationen über einen durchschnittlichen Fall“ werden Motive aus „Fasching“ und „Katzenmusik“ aufgenommen, jedoch expliziter auf ihren gesellschaftlichen Gehalt befragt. Der Geschlechtswechsel dient nicht bloß der sexuellen Erregung, sondern auch dem Entrinnen aus der aufgebürdeten (männlichen) Rolle und der daraus entstehenden Verantwortung. Der Transvestismus ist also mehrfach codiert: er impliziert sexuellen Lustgewinn, wie das Abstreifen der Rollenzuweisungen, ist zugleich aber auch Gleichnis einer absurden Welt.

Fritschs zweiter Roman „Fasching“ stieß wegen seiner Erzähltechnik wie seines Themas auf Ablehnung und Unverständnis. Die Kritik forderte Moral ein. Zwar wurde der Text inzwischen ‚rehabilitiert‘, doch steht weiterhin die politische Lesart im Vordergrund. Erkenntniskritische Fragen, sexuelle Diskurse und die Poetik des Romans bleiben ausgespart. Seinerzeit nahm einzig Oskar Maurus Fontana die Darstellung der Sexualität ernst und stellte einen Zusammenhang mit dem opportunistischen Nachkriegsösterreich her. Damals wie heute wird der Text auf seinen politischen Gehalt reduziert.

Alker versucht nun das „Andere“ des Romans zu bestimmen. Die komplex gebauten Figuren sind Katalysatoren von Verunsicherung, ihre Motivation bleibt unergründlich. Diese Undurchschaubarkeit der erzählten Welt entspricht den Gesetzen der Gesellschaft. Der Einzelne befindet sich in einem Räderwerk unkontrollierbarer, pervertierter sozialer und psychologischer Mechanismen. Angesichts all dessen verstört der im Roman vertretene Humor ebenso wie Nichtzuordenbarkeit von Details und die penetrant sexualisierten Handlungselemente.

Vergleicht man die Vorstufen mit dem publizierten Text, so zeigt sich, wie sehr Fritsch seinen Text im Prozeß der Entstehung konsequent gegen Zugriffe abschottete, deutende und erklärende Passagen strich und damit jedes Bedeutungssystem, jeden Sinnzusammenhang relativierte.
Dennoch bleibt der politische Gehalt von „Fasching“ eindeutig: Die Kritik an einem Österreich, das den Neuanfang verpasst hatte und stattdessen auf eine Kontinuität der Werte setzte. Allerdings hütet sich Fritsch vor einem Gegenentwurf. Dies mag auch damit zu tun haben, daß „Fasching“ auch ein Roman über die Möglichkeiten und Grenzen künstlerischen Opportunismus‘, über Anpassung und Auflehnung ist und folgerichtig mit der Auflösung des Ichs endet.

In den späten Texten, vor allem dem (vielleicht absichtlich) Fragment gebliebenen „Katzenmusik“ sollte Fritsch ungenierter schreiben, seinen Weg konsequenterweise weitergehen und sich von jeglichem aufklärerischen Impetus verabschieden. Satire, Provokation und Mißton lauten die Alternativen. Fiktion wird mit kaum mehr verhüllter Realität vermischt, wobei nicht nur die Person, sondern auch der Autor Fritsch gemeint ist.

Wie schon in dem von Stefan Alker mitherausgegebenen Sammelband („Gerhard Fritsch. Schriftsteller in Österreich“) zeichnet sich auch diese Studie durch ihren Materialreichtum aus. Als Bearbeiter des Nachlasses von Gerhard Fritsch, der sich in der Wienbibliothek befindet, wertet er eine Menge unbekannter Entwürfe, Stellungnahmen, Korrespondenzen und persönliche Notizen des Autors aus. In Zeiten, in denen die Germanistik oft vorschnell textferne Theoriegebilde zimmert, hält Alkers Arbeit ein Plädoyer für das Archiv. Diese Monographie ist nicht nur eine Arbeit über einen repräsentativen Schriftsteller der österreichischen Nachkriegszeit, sie schreibt auch eine Kultur- und Institutionengeschichte jener Zeit. Die Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Zuständen bestimmt sein Werk ebenso wie die Suche nach Bedingungen und Möglichkeiten des Schriftstellers und individueller, vor allem sexueller Selbstverwirklichung. Daß sich diese Fragen nicht trennen lassen, wurde von keinem Autor jener Zeit derart radikal formuliert wie von ihm. Und keiner scheiterte wohl so radikal daran wie der Schriftsteller, Literaturorganisator und Mensch Gerhard Fritsch.

Stefan Alker Das Andere nicht zu kurz kommen lassen
Werk und Wirken von Gerhard Fritsch.
Wien: Braumüller Verlag, 2007 (Wiener Arbeiten zur Literatur. 23).
241 S.; brosch.
ISBN 978-3-7003-1622-0.

Rezension vom 10.06.2009

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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