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Das Alphabet der Zeit

Gerhard Roth

// Rezension von Martin Kubaczek

Am Anfang war der Tod: Der Text setzt ein mit der Erinnerung an einen Luftangriff auf den Zug, in dem die Mutter mit den Söhnen 1945 unterwegs in Deutschland ist: „… ich höre nur Atemgeräusche, Husten, Räuspern, Seufzen und Stöhnen, ab und zu unverständliches Geflüster oder das unterdrückte Aufweinen eines Kindes“ (11) Diese Erinnerung, in dem sich eigenes Erleben mit später Erzähltem und mit filmischen Bildern vermengt, bezeichnet der Erzähler als seine eigentliche Geburt im Moment erster Bewusstheit. Was in Er-Form begonnen hatte, wird damit fortsetzbar als Ich-Erzählung.

Zwischen Verschubbahnhof und Müllhalden am Rand der Stadt Graz aufgewachsen, berichtet Roth von einem Leben in der Not und Armut der Nachkriegszeit, in der weniger von einer Aufbruchstimmung zu spüren ist als von autoritärer Restauration, Verleugnung, Hass und Gewaltbereitschaft. Der Vater, wie auch die Mutter als früheres NSDAP-Mitglied mit Berufsverbot belegt, ordiniert anfangs zu Hause, und so sind auch hier Krankheit, Verletzung und Tod ständig präsent, noch dazu, wo der Sohn von Anfang an zu kleinen medizinischen Handreichungen herangezogen wird, und ein Wort wie „Exodus“ ist eine geläufige Mittagstischvokabel. Eine der eindrucksvollsten Erzählpassagen beschreibt eine Wanderung mit dem Vater übers Land, wo er die Bevölkerung illegal gegen Naturalien behandelt. In diesen Hamsterstreifzügen sind Diebstahl und Schmuggel involviert, auch wird der Vater vom lokalen Arzt erwischt und brüskiert, das Kind muss mit dem Vater flüchten und sich alleine nachts beim Bahnhof verbergen, bis der Vater es wieder aus seinem Bombentrichter erlöst.

Roths Text ist gestuft: in römischen Ziffern werden kurze Paragraphen unter einem jeweiligen Subtitel aufgebaut, aus denen sich schrittweise eine Erzählung oder Anekdote ergibt, bis der sockelartige Aufbau an seinem höchsten Punkt jäh abbricht und das dramatisch Erlebte oft ohne weitere Deutung oder Kommentar abrupt stehen lässt. Kurze thematische Sequenzen bauen sich auf, etwa in der Textserie um die Erfahrung der monadischen Eingeschlossenheit aller Existenz, samt ihren Ausbruchshoffnungen und -versuchen: Der Onkel im „Feldhof“ (der Grazer geschlossenen Psychiatrie), die gefangene Heuschrecke, die der Erzähler durch das Glas betrachtet, die Schwalbe, die durchs offene Fenster ins Zimmer fliegt und nicht mehr hinaus findet (243-257). Bewusst gesetzt ist die Einfachheit der Sprache; kaum je wird zu komplexeren Satzgefügen gegriffen, meist genügen Basisbausteine der Syntax, was hier als Resultat einer frühen Entscheidung hervorgehoben wird, als es dem Autor um Prämissen der Aufrichtigkeit ging: „… ich übte mich verbissen in die Schutzlosigkeit ein und war erstaunt, um wie viel besser dann meine Sätze wurden. (…) Ich nahm mir vor, alles so einfach und klar wie möglich auszudrücken.“ (727)

Die Erzählung geht grob chronologisch vor, die Feinabstimmung aber orientiert sich an Themen, Motiven, Korrelationen und Analogien: Das vom Vater sezierte Schweineherz und das später vom Medizin studierenden Sohn sezierte Gehirn, die Mikrokosmen im Okular und im medizinischen Lehrbuch des Vaters, die Filmmetapher für den Bewusstseinsstrom als Filmriss oder als Schwarzfilm, um einen Lebensabschnitt oder den Ausfall einer Erinnerung zu markieren, die Faszination am Unheimlichen, das ebenso wie das Böse, die Negativität und die Machtlust auch an sich selbst wahrgenommen wird (etwa im Versuch als Kleinkind, den Bruder zu ertränken). Die im „medizinischen Haushalt“ emphatisierte Gefahr von Viren und Bakterien führt zum ständigen Gefühl unsichtbarer Bedrohung, Irrsinn wird erkannt als nicht mehr kommunizierbare Wirklichkeit. Emotionelle Isolation und Selbstmordgedanken überwältigen den Aufwachsenden. Schwere Erkrankungen, Verletzungen und Unfälle häufen sich, Stimmritzenkrämpfe bewirken Erstickungsanfälle bis hin zum Herzstillstand. Mehrfach rettet der zufällig anwesende Vater dem Sohn das Leben, zugleich beschneidet und bekämpft er aber dessen Versuche zu Selbstartikulation, indem er dessen Tagebücher liest und verbrennt. Der Sohn aber baut sich längst seine Gegenwelten auf, versucht sich im Sport, wird zum einsamen Läufer. Kino und Filmerlebnisse eröffnen neue Vorstellungswelten, die Lektüre wird zum „Paradies der Selbstvergessenheit.“ (432) und führt zur Erkenntnis, „dass die Geschichte der Menschheit nie wirklich erfasst werden kann, solange nicht unsere geheimen Gedanken und Träume sichtbar werden.“ (422)

Zu den eindrucksvollsten Passagen gehören die Personenzeichnungen; allen voran die der Siebenbürgischen Großmutter, mit der das Kind Phantasiegeschichten erfindet, oder die der teils bizarren Nachbarn an der Mülldeponie, der Bauern auf den Hamstergängen und der Schulkollegen, später die von kulturellen Persönlichkeiten wie Heimito von Doderer, den Roth in einer Lesung an der Grazer Universität erlebt, oder die ersten Begegnungen mit Wolfgang Bauer als Darsteller in einem von dessen ersten Bühnenstücken. Souverän in ihrer unauffälligen Präzision sind vor allem die beiden Portraits der (Nachhilfe-)Lehrer: „Der Priester“ und „Der Zen-Meister“ (707ff), an denen der Schüler zum ersten Mal staunend die Achtung vor dem Anderen und damit indirekt auch die Ermutigung für sein Selbstsein erfährt: Hier wird eine Eindrücklichkeit und Präsenz erreicht, als wäre ein feiner Schleier weggezogen, der sonst manchmal über dem Erzählen zu liegen scheint, knapp, konkret und präzise ist hier der Text, fern jener oszillierenden Täuschungsmetaphorik, die Erinnerung als eine „Fata Morgana in der Wüste des Vergessens“ versteht.

Der Roman schließt wieder mit einer mechanischen Analogie, indem der Erzähler die Bestandteile der fast fünf Jahrzehnte zuvor zerlegten Uhr findet und „in einem gelben Nylonsäckchen mit der Aufschrift HUMANIC“ die kleinen Einzelteile zum Uhrmacher bringt, und ihm zusieht, wie dieser beginnt, sie wieder zusammenzusetzen. (799) Wie in den vielen Teilen und Teilchen der Uhr, die Roth akribisch in Fachausdrücken benennt und auflistet, als wären es die Knöchelchen des Gehörgangs oder der Mittelhand, setzt sich hier im Bild die Summe der Teile zu einem Ganzen zusammen, auch wenn der Text das Leben als „unendlich komplizierteren Mechanismus“ (419) begreift. Hier zeigt sich Roth einer Epoche verhaftet, in der behavioristische Theorien faszinierten und das Emotionelle oft auch in der Kunst positivistischen Parametern unterworfen wurde. Gegenüber dem Gefühl kommt eine mechanische Metaphorik ins Spiel, in der sich auch Skeptizismus und Misstrauen gegenüber allem Pathos ausdrückt.

Im Zeitraffer springt der Text schließlich über die letzten Jahre hin zum eigentlichen Ziel dieses Buches: dem Realisieren einer Autorschaft, dem Eintritt in die literarische Existenz. Hier berühren sich Buch und Geschichte, schließen sich Fiktion und Realität kurz, und es wird deutlich: Roth hat mit dem Alphabet der Zeit vor allem jene Lebensstrecke nachkomponiert, die zwingend zu seiner ersten Veröffentlichung führt. Insofern ist auch verständlich, warum die Biographie literarisiert wird. Roth spricht von Metamorphose, tatsächlich ist es aber mehr ein langsames sich Entpuppen hin zur Arbeit eines Sprach- und Wirklichkeitsgestalters, der hier mit Autorstimme als Ich-Erzähler auftritt. Das Alphabet der Zeit will damit das Gleisstück sein, das Missing link, das hin zum großen Schreibprojekt führt, zu dem sich Roths Publikationen fügen. Die Biographie schließt damit nicht nur eine Lücke; sie beweist die Logik der literarischen Entwicklung und Existenz.

Das Alphabet der Zeit.
Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2007.
864 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-10-066060-2.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 02.04.2008

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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