#Roman

Daldossi oder Das Leben des Augenblicks

Sabine Gruber

// Rezension von Alexander Kluy

Bruno Daldossi ist Kriegsfotograf. Er lebt in Wien, stammt aus Südtirol und hat das Fotografieren, das Dokumentieren von Krisen- und Kriegsgebieten nun, nach mehr als 30 Jahren für das Magazin „Estero“, nahezu eingestellt. So wie fast alle anderen mit ihm bekannten Kollegen auch. Viel, ganz viel hat er mit der Kamera eingefangen, mehrere Male ist er um Haaresbreite dem Tod entronnen. Und er hat miterlebt, wie die Reihen der mit ihm befreundeten Kriegsreporter und Kriegsfotografen sich ausdünnten. Der eine fiel in Sarajevo Scharfschützen zum Opfer, ein anderer raste in Italien mit dem Motorrad gegen einen Baum (war es geplant?, inszeniert?, also ein Suizid?). Und dann gibt es noch die schreibenden Kollegen, die ihn manchmal begleiteten. Etwa der Deutsche Schultheiß. Der sich im Gegensatz zu Daldossi in der Regel nicht aus den Hotels wagte. Sich später dann aber, zurück in Deutschland, in TV-Gesprächsrunden als Held aufspielte und von Dingen berichtete, die er tatsächlich nie erlebt, lediglich aus zweiter Hand erfahren hatte.

Daldossi versucht seine Erinnerungen an Ermordete und Tote, an Panik, Elend und grenzenlose Armut, an Vertreibung und Schießereien, an Minenfelder und an versehrte, traumatisierte, fürs Leben gezeichnete Kinder durch rabiaten Zynismus, durch viel zu viel Alkohol und durch punktuelle, stets unglücklich bis furorhaft verlaufende Kurzzeitaffären zu überspielen. Marlis, die Zoologin, die in Zwettlburg eine Auffang- und Rettungsstation für Bären leitet, hat ihn verlassen. Sie hat sich in einen venezianischen Lehrer verliebt und ist diesem dorthin gefolgt.
Daldossi fasst den Entschluss, nach Venedig zu reisen, sie aufzusuchen, umzustimmen, zurückzugewinnen. Er weiß nur ungefähr die Adresse, schlägt sich dann bis zur kleinen Calle del Fuomo durch, nachdem er zuvor immer mehr getrunken hat. Das Resultat: Er wacht in einem fremden Hotelzimmer auf, das schon bezahlt ist. Denn tatsächlich hat er Marlis gefunden, beziehungsweise ist sie auf ihn gestoßen, als er stockbetrunken vor ihrem Haus lag, lallend, ein emotionales wie physisches Wrack. Sie hat ihn in dieses Albergo verfrachtet, ihm eine Mitteilung hinterlassen, dass es nun endgültig sei, vorbei für immer.

Daldossi hat sich zuvor mit der Journalistin Johanna getroffen, der Ex-Frau seines früheren Kollegen Schultheiß, die nach Lampedusa unterwegs ist, um im Auftrag eines Frauenmagazins eine Reportage über weibliche Flüchtlinge zu schreiben; auch eine Fotografin ist auf dem Weg dorthin, sie ist eigentlich Foodfotografin und wurde, so wie Johanna, als Vertretung eher zufällig aktiviert. Nach dem Fiasko in der Lagunenstadt reist nun auch Daldossi weiter zu dem Inselchen ganz im Süden des Stiefelstaates, das bekanntlich Anlaufpunkt für zahlreiche nordafrikanische Flüchtlingsboote ist. Johanna fängt sich umgehend eine Virusinfektion ein, so dass sie schwerkrank darniederliegt und schließlich aufs Festland verbracht werden muss. Daldossi düst auf einem Moped kreuz und quer über die Insel, macht sich einen Eindruck von der Lage, welche aktuell ruhig ist; dann, im Lauf einer Nacht, wird eine Flüchtlingsschaluppe nach der anderen in den Hafen geschleppt. Schließlich mietet er einen kleinen Kutter und fährt damit selbst hinaus aufs Meer.

Die gebürtige Meranerin Sabine Gruber – in diesem Sommer hat das von ihr programmierte Literaturfestival „Weinlesen“ im Augustiner Chorherrenstift Neustift bei Vahm/Südtirol Premiere gehabt –, die seit langem in Wien lebt, lässt sich für ihre Romane immer viel Zeit. Zwischen ihren letzten Büchern „Stillbach“, „Über Nacht“ und „Die Zumutung“ lagen jeweils vier Jahre (2011, 2007, 2003). Nun sind es fünf Jahre zwischen „Stillbach“ und ihrem jüngsten, sehr ambitionierten, stilistisch schlanken Roman. Selbstredend ist Zeit auch eines der zentralen Themen ihres neuen Buches. In vielerlei Hinsicht. Das fängt bereits mit der Zeit des Fotografen an, also des Momenteinfängers und Zeiteinfrierers Daldossi. Worauf ja bereits der gewählte Untertitel „Das Leben des Augenblicks“ verweist. Es ist das Psychogramm eines von der Welt und seinen Welt-Beobachtungen verwüsteten Mannes, der keine Stütze mehr hat im Augenblick. Der Augenblick ist keine Brücke mehr. Daldossi fühlt sich von nichts mehr getragen, die eine Hälfte der Welt besteht für ihn aus reinen Bildmotiv-Orten, während die andere, Mittel- und Westeuropa, keine Heimat mehr darstellt, weil sie Schein ist, trügerische Pseudoidylle, hat man die andere Welt durchlebt und durchlitten. Diese beiden Hemisphären durchdringen sich nicht mehr, die Arbeit des dokumentierenden Aufklärers ist unnütz geworden. Es ist insofern ein Männerbuch, wie der Vorgängerband „Stillbach“ ein Frauenbuch war. Und dabei doch wie jenes zeitlos, über-individuell und höchst politisch.

Gründlich recherchiert hat Sabine Gruber. Eine eng bedruckte Seite umfassen allein die Hinweise und Danksagungen; sie hat sogar selbst das 1999 eingerichtete Ausbildungslager der deutschen Bundeswehr in Hammelburg bei Hamburg besucht und durchlaufen, in dem Journalisten, die demnächst auf Reisen in die gefährlichsten Gegenden der Welt aufbrechen, gründlich präpariert werden. Deshalb sind diese Schilderungen von Bagdad, von Sarajevo, aus Tschetschenien ihr auch so eindringlich geraten.
Ein breit angelegter, fein komponierter und subtil geschriebener, ein bewegender und eindringlicher Roman ist Sabine Gruber mit diesem Buch gelungen, und ein außergewöhnlich sensibler Zeit-Roman.

Sabine Gruber Daldossi oder Das Leben des Augenblicks
Roman.
München: C. H. Beck, 2016.
320 S.; geb.
ISBN 978-3-40669740-1.

Rezension vom 29.08.2016

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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