Hanno Möbius hat dieses Versäumnis mit einer ausgreifenden Monografie nachgeholt. Es ist vor allem die außerordentliche Bandbreite und das weite Spektrum, das diese Untersuchung auszeichnet. Entsprechend nimmt sie ihren Untertitel ernst und fasst die genannten Kunstbereiche gleichberechtigt ins Auge. Aber zugleich durchbricht Möbius die Einengung des Blicks auf die einzelnen Kunstrichtungen; das besondere Augenmerk richtet der Autor auf ihre Verzahnungen mit den jeweiligen Nachbarkünsten und Grenzüberschreitungen auf unterschiedlichsten Ebenen. Neben dem Aspekt der Intermedialität ist es das Phänomen der Gleichzeitigkeit, dem Möbius sein durchgängiges Interesse widmet und das in starkem Maße zur Entstehung der Montage beigetragen hatte.
Der Hauptteil der Monographie begrenzt sich zwar auf den Zeitrahmen von 1910 bis 1930 (bzw. 1933 in Deutschland, 1934 in der Sowjetunion), in dem zunächst die Grundformen der Montage ausgeprägt, dann aber stufenweise die Möglichkeiten des neuen künstlerischen Verfahrens bis ins Letzte abgeschritten werden. Im Vorfeld aber räumt der Autor zwei ausführliche Kapitel (etwa ein Viertel des gesamten Bandes) der Montage vor dem 20. Jahrhundert sowie der Montage in der Technik ein. Darin spürt er zum einen der Montage verwandten ästhetischen Formen nach, die von einer modernen Montage abzugrenzen sind. Diese lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, wie beispielsweise das Cento (nach bestimmten Zitierregeln hergestelltes Gedicht). In der Malerei etwa sind es die Quodlibets, die eine besonders frappante Ähnlichkeit zur Collage/Montage aufweisen, sich aber bei näherer Betrachtung als Trompe l’oeil, als Täuschung herausstellen (die einzelnen Alltagsgegenstände wie Theaterzettel, Karten etc. sind gemalt und nicht geklebt).
Zum anderen skizziert Möbius anhand des Phänomens der Gleichzeitigkeit, wie – bereits lange vor der Montage im Film – in den traditionellen Künsten nach Möglichkeiten gesucht wurde, den neuartigen Erfahrungen von Zeit und Raum (Fragmentarisierung von Wahrnehmungen, Verlust sinnlich erkennbarer Ursachen etc.) ästhetisch beizukommen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war es Georg Christoph Lichtenberg, der anlässlich eines Londonaufenthaltes die moderne Stadterfahrung als zentrale „soziale Voraussetzung der Montage“ vorführt und zugleich das Widersprüchliche einer planvollen Darstellung des städtischen Durcheinanders thematisiert. Dieses Darstellungsdilemma wird die Montage (ein gutes Jahrhundert später) lösen, indem sie das Prinzip der Einheitlichkeit wie das der Kausalität gleichermaßen fallen lassen wird.
Ein weiterer Aspekt, der mit der Entstehung der künstlerischen Montage zusammenhängt und von der Forschung überraschender Weise kaum untersucht wurde, ist durch ihre Beziehung zur Technik gegeben. Wenn etwa John Heartfield und George Grosz zur Präsentation ihrer ersten künstlerischen Montagen bzw. Collagen um 1916 öffentlich als Monteure in blauer Arbeitskleidung auftreten, so handelt es sich hierbei um eine symbolisch ebenso präzise wie folgenreiche Deklaration: Sie wollen als Monteure den Status des schöpferischen Künstlers nicht mehr einnehmen. Ihre Collagen/Montagen, für die sie Fremdmaterialien unterschiedlicher Herkunft verwenden, verweisen auf die „Arbeitsteilung als Voraussetzung der Montage“. In den Ready-mades wird diese Intention noch radikalisiert. Die Offenheit des Montagekunstwerks zieht damit zugleich eine völlig veränderte Stellung des/der Rezipienten/in nach sich.
Der Einsatz der Montage/Collage bedeutet einen radikalen Paradigmenwechsel in der künstlerischen Kommunikation, der als Revolte gegen eine überkommene Kunstauffassung auf der einen Seite als Schock, auf der anderen als lustvolle Befreiung wahrgenommen wurde. Der entscheidende öffentliche Durchbruch findet um 1910 mit dem Kubismus in der Malerei und der Einbeziehung von nichtkünstlerischen Realien bzw. Fremdmaterialien in das Kunstwerk statt. Eine Radikalisierung wird durch eine immer weiter getriebene Integration von kunstfremden Materialien erreicht. Doch auch das Experimentieren im Materialbereich spielt eine besondere Rolle. Die Entwicklung verläuft vom Kubismus über den Futurismus zum Dadaismus und Surrealismus. Sie setzt bezeichnender Weise in den traditionellen Medien der Malerei und Literatur ein; mit der Fotomontage erzielt sie insbesondere durch die Einbeziehung von dokumentarischem Fremdmaterial neue Gestaltungsformen. Doch gilt es hervorzuheben, dass die neuen technischen Medien der Fotografie und des Films zwar genuin neue Möglichkeiten der Montage eröffnen, aber zuerst von den nunmehr avancierten Montageformen in den traditionellen Künsten erheblich profitieren. In der Begrenzung ihrer realen Möglichkeiten verfügen diese selbst über irreduzibel eigenständige Mittel der Montage. Nicht allein gegen das „verbreitete, aber irrtümliche Verständnis einer einseitigen Einflußnahme des Films auf die Literatur“ kann die profunde Untersuchung von Möbius einiges zurechtrücken. „Die meisten Anregungen aus filmischen Montagekonzepten (sind) mehr die Verstärkung einer historisch bereits entwickelten Darstellungstendenz, als ein Einfluß, der nur vom Film ausgehen konnte.“ Hier ist beispielsweise der Rückgriff von Seiten des Films auf das Theater erwähnenswert. Offene Modelle wie die des Varieté und der Revue aus dem sogenannten „niederen Theater“ nutzten Regisseure der frühen Sowjetunion (Meyerhold, Eisenstein) oder Piscator zur Entwicklung von Montageformen im modernen Theater, die dann für den Film adaptiert wurden.
Im Vordergrund der Untersuchung stehen exemplarische Werke, die neue Entwicklungsimpulse geben, sowie innovative Verfahren, die eigenständige Darstellungsformen hervorbringen. Dazwischen fügt Möbius Theorie-Kapitel ein, die einzelne Phänomene einkreisen und theoretischen Fragen gesondert nachgehen. Die Fülle der analysierten, oftmals aber auch nur kurz angerissenen Beispiele von Montagekunstwerken drohen manchmal ins Uferlose zu verlaufen. Und dem/der LeserIn steigt ein gewisses Unbehagen auf angesichts eines weiteren und noch eines weiteren Beispieles, das den Variationsreichtum belegen oder eine erneute Spielart eines Montageexperiments vorstellen soll. Demgegenüber stellen die Theoriebausteine eine Art Atempause und ein gutes Gegengewicht dar.