#Roman

Città morta

Jürgen Lagger

// Rezension von Roland Steiner

Sechs Jahre nach seinem außergewöhnlich beeindruckenden Roman „Öffnungen – Ein Maßnahmenkatalog“ legt der 1967 in Villach geborene Autor und Verleger (Luftschacht Verlag Wien) Jürgen Lagger im Titel neuerlich eine falsche Fährte: Strebte sein einsamer Held damals eine Selbstverschließung in extremis an, so erweist sich das zeitgenössische Rom im aktuellen Roman, der eher einer Novelle gleicht, als das Gegenteil einer Città morta – wiewohl der Tod eine Rolle spielt.

Der zuletzt mit einem Staatsstipendium ausgezeichnete Schriftsteller hat mehrere Jahre und Rombesuche in die Erschaffung einer sich vom Vorgängertitel unterscheidenden Sprachform investiert, die gleichwohl Anleihen an bestehenden nimmt. In lyrischen Publikationen ähnelndem Flattersatz treten drei Stimmen auf, die auch drei erzählte Zeiten repräsentieren – Gleichzeitigkeit, Reflexion, Erinnerung – und sich schriftbildlich unterscheiden (Standard-, Klammer-, Kursivtext). Erinnert dies – samt elliptisch wiederkehrenden Motiven und Sätzen – an António Lobo Antunes, so fand man punktlose Kapitel zuletzt bei Thomas Lehr („September. Fata Morgana“). Im Titel, aber vor allem in der Präzision und Intensität der Beobachtungen klingt Josef Winklers römische Novelle „Natura morta“ an, die Kombination aus Knabenliebe und Todessymbolik wiederum erinnert bewusst an Thomas Manns „Tod in Venedig“. Und nach Angaben des Autors im Text fände man in den kursiven Einschüben diverse (beleglose) Zitate.

Das erste der sechs Kapitel beginnt mit der Ankunft des namenlosen Ich-Erzählers am Bahnhof Roma Termini im Frühherbst. Obwohl er bereits mehrmals in der Stadt weilte, ist ihm die Sprache immer noch fremd und stößt ihn das übliche Chaos zuerst ab. Ein Taxi fährt ihn zu seiner Unterkunft nahe der Piazza Navona, deren Verwahrlosung und Bedrückung ihn neben seinem Flanierdrang sogleich ins Freie treiben. Bereits zu Beginn des Romans zeigt sich die Stärke Laggers, wenn er Momentaufnahmen in visuelle und olfaktorische Eindrücke zerschneidet, die er zu starken Bildern poetisiert und diese dann teils immer wiederkehren lässt, ohne Redundanzen zu erzeugen. Sein sinnesoffen sensibler Menschenbeobachter flaniert durch die touristischen Innenstadtzonen, aus denen er einzigartige Mikroszenen schält und in denen er eine „träumerische Entfremdung“ (S.50) erfährt. So verfolgt er etwa ein Pärchen über die Piazza Navona und den Corso del Rinascimento, gibt dabei – wie der Autor als studierter Architekt – passierte Sakral- und Profanbauten in architektonischen und farblichen Details wieder und stellt flüchtigen Situationsblitzen langsame Szenenbeleuchtungen gegenüber. Nach einigen Tagen jedoch befallen ihn Ungenügsamkeit und Unlust – obgleich der Leser bereits hier spürt, dass es eher Lust ist, die den Erzähler treibt.

Diese Lust schärft seine Beobachtungshingabe noch weiter: Filmisch in slow motion und bisweilen phantastisch weiterspinnend, gibt er Szenarien um verhaltensauffällige Touristen und ritenreiche Hochzeitsgesellschaften, ambulante Händler und Zeit konservierende Restauratoren, lebensfrohe Müllmänner und tuntige Ober wieder. Wie in Josef Winklers „Friedhof der bitteren Orangen“ steht auch in Laggers bedächtig zu lesendem Roman die Körperlichkeit im Fokus, eine Leiblichkeit, die er mitunter zu Tableaus in Miniaturform aufschichtet. Eine flirrend lange, eindringliche Szene an der Fontana di Trevi ist es, die den Erzähler und den Text ab dann antreibt: Vier rund 20-jährige Italiener fotografieren einander wie Fotomodels, tauschen Kleider und Haarwachs, Gesten und Blicke – und der Erzähler fotografiert sie quasi schriftlich und weiß: „kein Blick ohne Bedeutung“ (eine den gesamten Roman durchziehende Behauptung). Folgerichtig fühlt er sich ertappt, als einer von ihnen auf den Flaneur aufmerksam wird – Scham und Begierde fallen ineinander. Da nützt es nichts, wenn er rational abzuschwächen versucht: „und die Sexualität total zu einem Ritus geworden [so denke ich noch weiter hinter jemandem her] je ärmer und leerer das alltägliche Leben wird“ (S.92).

Denn ab da ist der Erzähler auf der Suche nach dem Jungen und der Erfüllung seiner Fleischeslust. Diese Suche rollt der Autor symbolisch über die drei Gewalten Liebe, Tod und Natur auf: Erst nach dem Auftritt einer unter dem Beschuss von Reiskörnern vor der Hochzeitskirche stürzenden Braut, einer scheintoten Bettlerin und eines gewaltigen Hagels kommt es zur Wiederkehr des Jünglings. Honigfarbenen Haars, rund zwanzig Jahre jünger und lispelnd umkreist er den Ich-Erzähler, sie verfolgen einander gegenseitig und leicht wie im Spiel, ehe sie in der abgewohnten Bleibe nahe der Piazza Navona landen. Doch das Erwachen nach der Wonne bietet dem österreichischen Müßiggänger bloß jene Gefühle dar, die der einseitigen Diskontinuität von Verliebtheit entspringen: Alterslast, Todesangst, ein zwischen Buchdeckeln konserviertes Haar – und aus seiner Brust „steigt zäh ein dunkles Meer“ (S.173).

Laggers melancholisches, doch sinnlich helles Meer an Szenen endet mit einer Coda dort, wo viele deutschsprachige Autoren ihre Romtexte zentrieren, am Campo de Fiori. Auch wenn man sich wünschen darf, dass nachgerade Flaneure die Innenstadt der italienischen Kapitale ein wenig verlassen mögen: Der Autor schafft es, den potentiell abgenutzten Bilderwelten um die römischen Touristen-Hotspots ganz neue Intimaufnahmen abzuschreiben und die Körperlichkeit des sterblichen Menschen mit jener der Ewigen Stadt zu vergleichen. Auf bitterzart poetische, hochsymbolische und leicht mythologische Weise führt Jürgen Lagger einen impressionistischen Film des Lebens zwischen Eros und Thanatos vor, in dem Leidenschaft Sprach- und Altersbarrieren überwindet und Ernst und Spiel sich kurz vereinen.

Jürgen Lagger Cittá morta
Roman.
Innsbruck: edition laurin, 2011.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-902719-92-8.

Rezension vom 28.04.2011

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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