#Prosa

Circus Wols

Hans Eichhorn

// Rezension von Anne M. Zauner

Alfred Otto Wolfgang Schulze stirbt am 1. September 1951 im Alter von 38 Jahren an den Folgen einer Fleischvergiftung.
Fast ein halbes Jahrhundert später ist besagter Alfred Otto Wolfgang Schulze schuld daran, dass sich der oberösterreichische Autor Hans Eichhorn auf einen steinigen Weg begibt: Er sucht den „wahren“ Alfred Otto Wolfgang Schulze, der so kläglich und kaum beweint an einem ungenießbaren Stück Fleisch starb. Eichhorn beginnt am 17. November 1997 mit einer ersten Eintragung in sein literarisches Tagebuch: „Eine Legende nehmen, um daraus eine Geschichte bzw. ein gemeinsames Schulegehen und Geschichtelernen zu entwickeln, ist vielleicht eine Ungeheuerlichkeit oder eine Leichtfertigkeit.“

Eichhorn tut sich schwer mit Alfred Otto Wolfgang Schulze, der den Kunstliebhabern besser unter dem Namen Wols bekannt ist. Er, der in den dreißiger und vierziger Jahren als bettelarmer Fotograf und Maler in Frankreich lebte, tut sich schwer mit dem Deutschen. Eichhorn nennt ihn brüderlich Wolfgang und kommt ihm trotzdem keinen Schritt näher. Eineinhalb Jahre lang protokolliert der Autor sein Ringen um die flüchtige Gestalt. Er notiert: Wols, der Außenseiter, weiter: Wols, der apolitische Deutsche in Paris in Zeiten, in denen es unmöglich ist, apolitisch zu bleiben, weiter: Nationalsozialismus, Krieg und Internierung in einem französischen Lager, weiter: Alkohol, weiter: Wols malt handtellergroße Aquarelle, weiter: Die Lebensgefährtin Gréty hilft Wols, schmuggelt Schnaps ins Lager, betreibt seine Freilassung, weiter: Circus Wols entsteht, vage Visionen eines universellen Volksbildungsplans, weiter: Kriegsende und bittere Armut, weiter: Wols ertrinkt im Alkohol, weiter, weiter. In chronologischer Abfolge erzählt Hans Eichhorn ein Künstlerleben. Es gelingt ihm jedoch nur selten, hinter die biografischen Wols-Daten zu blicken.

Der Chronist scheint dies zu spüren, immer wieder beschwört er seine Phantasie, seine Imaginationskraft, er blättert in den Ausstellungskatalogen, sucht nach Lebenssplittern. Eichhorn blickt von seinem Schreibtisch auf, betrachtet den Birnbaum vor seinem oberösterreichischen Kleinstadtfenster, beschwört erneut seine Imagination; er hört Kinderstimmen im Nebenzimmer, Alltagsgeräusche; er plündert das Tagebuch seiner damals achtjährigen Tochter Renate und beschwört Wols. Wolssuche. Wols? Fragezeichen durchziehen sein literarisches Tagebuch; die Seiten sind übersät von Fragen.

Die Faszination des Autors für Wols ist aus den täglichen Exerzitien deutlich herauszulesen – er ersehnt sich eine romantische Figur: den genial-gescheiterten Künstler in der Hauptstadt der Kunst, im Paris der dreißiger Jahre. Eichhorn notiert: Wols trifft beinah Duchamp, weiter: Jean-Paul Sartre schreibt einen Essay über Wols, und Simone de Beauvoir weiß eine kleine Anekdote vom unheiligen Trinker zu erzählen. Der Autor lässt nichts aus. Tag für Tag sucht er nach Authentizität für seinen Künstlermythos, Tag für Tag addieren sich neue Fragen auf. Erst die letzte biografische Station, der Tod von Wols, erlöst Hans Eichhorn von seiner Sisyphusarbeit.

Zwischen zwei Eingangszitaten und den ersten Tagebuchnotizen ist ein Selbstporträt von Wols kurz vor seinem Tod abgebildet. Die Fotografie erzählt uns mehr von Wols, als es Hans Eichhorn mit all seinen Mühen und Plagen gelingt.

Hans Eichhorn Circus Wols
Aufnahme und Projektion.
Salzburg, Wien: Residenz, 2000.
267 S.; geb.
ISBN 3-7017-1219-0.

Rezension vom 20.10.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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