#Roman

Chrysalis

Ines Birkhan

// Rezension von Ursula Reber

Affektive Zustimmung zur Zurichtung –
Chrysalis inszeniert Höllenfahrten in Paradiesen.

(Roman) – ich bevorzuge, die Gattungsbezeichnung in ihren Klammern, wie sie unterhalb des Titels erscheint, beizubehalten. Der Text, den die Autorin vorlegt und in 2 Bücher mit 7 bzw. 6 Abschnitten gliedert, entzieht sich einer poetologischen und generischen Bestimmung. Am ehesten könnte man von einer Inszenierung sprechen, von einer Übersetzung in Wortbilder und Wortbildfluten, die teilweise sehr lyrisch, auf jeden Fall dramatisch, streckenweise pathetisch, manches Mal auch kitschig, stellenweise angestrengt befremdend dahinfließt. Der (Roman) versucht, eine eigene und neue Form der Poetologie zu entwickeln, irgendwo zwischen Bühneninszenierung, Halluzination und Worttanz angesiedelt. Der Klappentext zum Buch spricht von einer „Poetik und Vision der Verwandlung“. Metamorphose, Anamorphose und Verzerrung verweigern auf der Bild- und der begrifflichen Ebene in der Tat dem (Roman) seine Gestalt; was hier entsteht, ist eine schwindel- und manchmal Ekel erregende systolische Textbewegung von Öffnung und Schließung, Überschuss und Auslöschung, Weite und Begrenzung.

In Sanhortus war mir ein mit Präzision gespicktes Koordinatensystem des Agierens vermittelt worden. Jetzt ist alles diffus! Viel zu viel Raum für Interpretation. (102)

Zu viel Raum, zu viele Organe, zu viel Erinnerung, zu viel Leben, zu viel Information – das Prinzip des Überschusses und der Strömung, der Maßlosigkeit und der beständigen Entgrenzung von allem fest umrissenen in das Offene (von der Haut als Gefängnis in durchlöcherte oder riesenhafte Körper, vom Unterirdischen in die Oberflächenwüste, von der Opernbühne in den Urwald, vom Land ins Wasser, von der kleinen Gemeinschaft in die „multitudo“ illegaler Migranten) treibt die Erzählfluten voran. In diesen Fluten werden die beiden erzählenden Figuren, Bruder und Schwester, kombinatorische Zwillinge, mitgeschwemmt und sehen sich gezwungen, Individualität und Subjektivität, Handlungsmacht zu entwickeln, zeitweilige Strukturen in ein chaotisches und unbegreifliches Geschehen zu kerben.

Ein Storyline lässt sich mit ein wenig Mühe extrahieren, auch wenn v.a. im ersten Buch der Erzählfluss keiner eindeutigen Richtung folgt: Das agierende Double, Zwillinge – Junge und Mädchen – erleben zu Beginn die Vertreibung aus dem Paradies, aus „Sanhortus“, dem heilen und sicheren Garten: nach diversen Massakern, Verschüttungen hilft nur eines – der Weg ins Freie, in die Wüste der Erdoberfläche und das Unbestimmte. Dort verlieren sie sich; während der Junge mit einem Schwarm Riesenschmetterlingen, unter denen er auch die Mutter wähnt, davon fliegt, bleibt das Mädchen mit einer Gruppe Frauen zurück. Die Überlebenden dieser Gruppe werden von den Einwohnern eines weiteren Paradiesgartens, „Felixhortus“, gerettet und in die Gemeinschaft eingegliedert. Doch für die Schwester will die Integration nicht gelingen; sie ergreift gemeinsam mit den Kindern von Felixhortus und einem Schwarm Riesenkrokodilen die Flucht, zurück ins Freie, in den unbestimmten Raum. Der Bruder unterdessen verbleibt bei den Schmetterlingen, die sich auf eine neue Metamorphose vorbereiten, an denen er jedoch nicht teilhat. Stattdessen leistet er Stallarbeit, bis er die Kraft findet, sich weiter aufzumachen. Er entflieht einer mysteriösen Rekrutierung und strandet in Marokko in den peripheren Slums irgendeiner Stadt bei den Staaten- und Rechtlosen, den illegalen Migranten. Dort verbringt er seine Tage in Angst und Paranoia, bis er eine Nachricht von der Schwester erhält und sich aufmacht, um eine Insel zu suchen, die Krokodile und die Kinder zu beschützen.

Die „Kinder“, mittlerweile Jugendliche, werden zu den ProtagonistInnen des zweiten Buches. Xüla übernimmt nun die Rolle des Schwesternparts und beherrscht mit ihrer Individualität die Erzählszene bis zu ihrem letzten furiosen Untergang in einem Gefangenenlager und einer Versuchs- und Forschungsanstalt unbekannter, global agierender Pharmafirmen, aus der sie zwar in letzter Sekunde (vom Bruder?) befreit werden kann, doch an Körper und Seele beschädigt, als lebendes Drogendepot, für das Leben unverdaulich.
So grob lassen sich die am häufigsten wiederaufgenommenen Erzählstränge zusammenfassen, die nichtsdestotrotz von weiteren umwoben sind, in denen sich immer wieder die Riesenschmetterlinge, hybride Mensch-Riesenschrecken, ein verschwimmender Mann wie aus Altöl, ein als Therapeut und Henker verdingter Hai, ein terroristischer Wal, seltsame Doubles der Menschen und Körperteile der toten, am Meeresgrund wieder zu etwas Neuem heranwachsenden Schwester zu Wort melden.

Das Verpuppungsstadium, auf das der Titel Chrysalis Bezug nimmt, wird in erster Linie repräsentiert durch die Riesenschmetterlinge, die irgendwann in einer kurzen Sequenz, welche auch die Paradiesgärten vom (Roman)beginn in einem neuen Licht als Versuchsstationen von medizinischen und pharmazeutischen Firmen und keineswegs als Enklaven weiter entwickelter und privilegierter Gemeinschaften erscheinen lässt, spielt jedoch zugleich auf ein Verpuppungsstadium der gesamten geschilderten Welt an, in der die geschändete Ökologie nicht kippt, sondern Neues hervorbringt, ihre spezifischen Monstren gebiert, die bei sprachbegabten und arbeitenden Tieren nicht Halt macht, sondern das Innerste ergreift. Verwandlungen werden allenthalben ersehnt, in rasender Seelen-Körperaktivität gewaltsam in die Realität gezerrt, endlos begehrt und in wilden Körperexzessen inszeniert. Bewusstsein, so immer wider kehrendes Fazit, wird breit überschätzt, erschließt sich über den Körper, ist selbst ein großer Körper, der ständigem Umbau, Zerstückelung und neuer Zusammensetzung unterliegt.
Mit dem Körper beginnt und endet folgerichtig die Geschichte; sie beginnt mit der Schönheit und der Schnelligkeit der langen Beine des Bruders und der Anmut, die er im Lauf zeigt, und endet nach all den Transformationen, Zerschneidungen und qualvollen Heilungsprozessen auf der stofflichen Ebene, der Verdaubarkeit und Nichtverdaubarkeit von Giftstoffen und dem neuen „Kind“, einer Ansammlung von Lebern, Nieren, Milzen, Lungen in einem leuchtenden, porösen Hautmantel.

Die Bühne, die Oper und der Tanz als Orte des körperlichen Lernens und Agierens und der großen Affekte zentriert und bestimmt die körperlichen und emotionalen Bewegungen der Geschwisterakteure: Theaterschminke, Tanz und die Einwirkung mit dem eigenen Körper auf andere Körper, die Herstellung eines einzigen großen Körpers und (Schmerz)-Affekts, in dem Körper und Neuropsychologie („Aber der Oberkörper folgt nicht, hängt erschöpft zwischen Besenstange und Kreuzbein, während sich die unzufriedenen Gedanken am herrscherlichen Instruktionsfluss reiben. Im Nacken treffen die Ströme aufeinander und produziern ineinander verkantet eine eiserne Klammer.“ [62]), das Informations- und Emotionssystem ex- und implodieren in der Aufhebung von Akteur/Zuschauer, Innen und Außen beherrscht die dargestellte neue Art des Seins. Dabei geht es nicht um den visuellen Sinn, sondern um das Fühlen, um die Übertragung und das Ausagieren von affektiven Strömen, das ein nicht unbedingt bewusstloses, aber v.a. ein exzessives und affekt- und pathosgeladenes Feld des Werdens herstellt. Pathos, das Er-Leiden, die Überantwortung an solch ein hyperventilierendes und orgastisches Werden, das das Innerste mit dem Äußersten vertauscht, lust- und schmerzvoll umorganisiert, sich Öffnungen in Körper bricht und Innen- wie Außenkörper zu einem neuen schwarmartigen Körper gestlatet (die Schmetterlings- und Schreckenwesen haben über Hybridisierung die zerstörerisch-neu gebärende Umorganisation der Körper und das Agieren in Schwärmen naturalisiert und ritualisiert), steht als der Bühnenaffekt in der Mitte des geschilderten Seins. Manchmal ist die lesende Konsumtion dieses starken Pathos schwer erträglich, denn was Chrysalis vermissen lässt, ist eine Form der Leichtigkeit, des Humors, der Distanz. Die systolischen Körperaffektwelten lassen keinen Freiraum, ein Abstand zwischen Erzähler, Erzähltem und Rezipient lässt sich in dieser Dichte und Tonnenschwere geschichteter, vekeilter, blutender und ejakulierender Leiber kaum herstellen. Leichtigkeit liegt hier nur in der verhältnismäßigen Kürze von 227 Seiten; diese jedoch tanzen selten, sondern überströmen die Leserin.

Chrysalis steht thematisch inmitten eines Bündels an Diskussionen und Überlegungen zum Transhumanismus, zu Leben, seinen Organisationsformen als bios, zoe und Cyborg, zu Performanz und zum Affekt. Der (Roman) geht mit seinen Körperwelten, über die Namen, Identitäten, Affekte und Handlungen hinwegziehen einen Schritt weiter als viele Romane die sich dem Leben zuwenden. Ines Birkhan tritt radikal in der Naturalisierung des Kulturellen und Zivilisatorischen auf. Dass sie mit Chrysalis an die radikale Immanenzphilosophie von Leben/Zoe, die sich aus Donna Haraways Cyborg-Manifest entwickelt hat, mit ihren Körperphantasien anschließt, zeigt sich am deutlichsten in der Allgegenwart von Affekten (Schmerz, Angst, Freude), die vom Körper produziert und über ihn ausagiert werden, darüber hinaus in ein endloses außersprachliches Fließen gebracht werden und die das eigentliche Kommunikationsmittel, eine Form der Direktübertragung, der taktil-energetischen Ansteckung ausmachen (was zum Schluss im „Kind“ unter Ausschaltung aller bewusster Systeme als pharmazeutischer Unfall umgesetzt wird).

Als Relikt und Zwischenstadium zwischen affektivem Körper und Körperzurichtung/Machtinstrument steht der Trieb mit seinem Automatismus erigierter Glieder und körperlicher Ineinandertreibungen, die Beschneidungen und Penetrierungen, die Körper als reine Objekte und Lustmaschinen. Die rauschhafte Entgrenzung von Körpern, die über eine Sprache der Gewalt, des Übermaßes und der Körperaffekte mit all seinen Säften, Funktionen und Dysfunktionen dargeboten wird, spricht direkt den lesenden Körper wieder an, in dem seinerseits affektive Reaktionen erzeugt werden. Das biologische und das soziale Geschlecht wurde in Chrysalis verabschiedet, obwohl Weiblichkeit, Gebärfähigkeit, das Bild des wellenförmigen, wie warmes Wasser strömenden weiblichen Orgasmus und das weibliche Pathos erzählten Vorrang haben, bildet auch dies nur ein Durchgangsstadium in die Tiefsee zu den Mollusken und vereinzelten Organen, zur durchlässigen Haut, die nur durch den Wasserdruck zusammengehalten wird, aber stets bereit bleibt, sich aufzulösen und zu verströmen. Nicht die Puppe, der Kokon, in dem viele Transformationsstadien vertrocknen und verdorren, die gefällt, zerbeilt und zerstreut werden können, die Molluske, der druchsichtige Körper, in dem Innen und Außen im steten Austausch stehen, ist das metamorphotische Ziel, zu dem Chrysalis hinstrebt.

Mit der Kombination aus ökologischer Dystopie und Affektroman ist Chrysalis nicht ohne Vorbilder und Vorgänger, der (Roman) bewegt sich irgendwo zwischen Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten und Margaret Atwoods Oryx and Crake, zwischen affirmativem Cyberfeminismus und Dystopie. Mir ist jedoch kein anderer Roman bekannt, der so konsequent über den Körper denkt und schreibt: Erinnerungen werden zu Schlangen, die kilometerweit aus dem Rachen hängen (103), Raum erschließt sich allein über die körperliche Positionierung, nach innen wie nach außen, Lernprozesse finden körperlich ver-formend statt, Identität als begehrtes Partialobjekt des Körpers, wie die auffällig langen Beine des Bruders, hat keinen außerkörperlichen Ort, und v.a. induziert der Körper Affekte und Emotionen. Dem Diskurs des affektiven Körpers ist die orgiastisch-orgasmische Szenerie und Schreibweise geschuldet, das Übermaß an körperlichen Reaktionen und die Allgegenwart von Bühnen, der hohe Stellenwert des Theatralischen und Körperlichen in der Formation der neuen Gesellschaft/en, die unter der Ägide und Teilnahme der unsichtbaren Firmen entstanden sind.

Ines Birkhan hat insgesamt gesehen und abgesehen von einigen sprachlichen Holperigkeiten, die dem Lektorat entgangen sind, einen beeindruckenden Textorganismus vorgelegt, dessen impressionistischen Stärken bei weitem die kleinen Schwächen (wie die doch nervigen Dialoge mit den Krokodilen, die in einem unverständlichen, nicht identifizierbaren Dialekt geschrieben sind und wohl doch zu sehr der Gattung Kinderliteratur angehören und sich dem gewaltigen Stil und der spezifischen „Pathosformel“ des [Romans] quer legen) überragen. Beeindruckend ist die Konsequenz der Bilderwelten und des Verzichts auf Abstraktes und Begriffliches, elegant und überzeugend – auch vor dem Hintergrund der beruflichen Laufbahn der Autorin als Tänzerin Performerin – die Vertextung von Bewegung und Bewegungsrausch sowie die Zentralisierungen rings um Bühnen, über die „Staging“ und „Performance“ als Aktionsmodelle unmittelbar und nicht nur über die Metaphorik dargeboten werden. Der Text möchte wohl am ehesten als eine überaus gelungene Improvisation, deren Komposition und Strukturen den Rhythmus des Geschehens bilden, ohne aufdringlich zu sein, charakterisiert werden.

Ines Birkhan Chrysalis
Roman.
Wien: Praesens, 2009.
225 S.; brosch.
ISBN 978-3-7069-0573-2.

Rezension vom 11.01.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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