#Prosa

Chronik der laufenden Entgleisungen

Thomas Köck

// Rezension von Monika Vasik

Ein Jahr lang beobachtete der für seine Theaterstücke bereits mehrfach ausgezeichnete Autor Thomas Köck die deutsche und österreichische Medienlandschaft und führte darüber ein Logbuch, in das er chronologisch Ereignisse und Entwicklungen in beiden Ländern aufzeichnete und das Erstarken der Rechten sowie des Rechtspopulismus dokumentierte.

Logbücher dienen in der Schifffahrt seit langem dem Protokollieren von Messdaten und wichtigen Vorkommnissen auf See. Später haben sie in andere Bereiche Einzug gehalten, etwa in der Luftfahrt, beim Militär oder im universitären Bereich, zum Beispiel zum Nachweis von Aus- und Weiterbildungen. Auch in der Literatur kennen wir Logbücher. So hat der slowenische Schriftsteller Aleš Šteger 2016 sein lesenswertes Logbuch der Gegenwart im Haymon Verlag veröffentlicht, in dem er aktuelle Themen, Schauplätze und Entwicklungen in der Welt mit seinem Medium, der Sprache, literarisch einfing.

Thomas Köck verfährt in seinem aktuellen Werk mit dem grandiosen Titel Chronik der laufenden Entgleisungen anders. Er legt seinen Fokus auf medial vermittelte Vorkommnisse in Österreich und Deutschland. Nur gelegentlich lenkt er seinen Blick darüber hinaus, wenn er Schlagzeilen in anderen Länder Europas zur Illustration der politischen Entwicklungen nutzt, während globale Probleme und Verwerfungen mit Ausnahme der drohenden Klimakatastrophe in seinem Protokoll großteils ausgespart bleiben.

Verfasst hat Köck sein Tagebuch im Vorfeld der österreichischen Nationalratswahl 2024. Es war ein Auftragswerk für das Schauspielhaus Graz, wo es unter der Regie von Marie Bues am 22.9.2024 uraufgeführt wurde, sowie für das Schauspielhaus Wien, an dem die Premiere am 26.9.2024 stattfand. Der Beobachtungszeitraum reicht von 5.6.2023 bis 4.6.2024. Entstanden ist ein für dramatische Gestaltungen offener Text von knapp 370 Seiten, der sich durch entsprechende Kürzungen für Aufführungen in beiden deutschsprachigen Ländern adaptieren lässt, mal mehr österreichische, mal mehr deutsche Bezüge wählend, dabei ähnliche Verwerfungen, die „disruptive Politik“ (S. 11) von FPÖ und AfD, ihre zunehmenden Erfolge sowie die schleichende Verrohung der Sprache, die wesentlich Teil dieser Entwicklungen ist, protokollartig nachzeichnend. Denn es ist gewiss: „An der Sprache wird sich alles entzünden.“ (S. 156)

Gegliedert ist das Buch in vier Kapitel mit den sprechenden Titeln Sommerloch, Herbsterschöpfung, Winterdepression und Frühjahrsmüdigkeit, die zugleich die Anstrengungen des Chronisten widerspiegeln. Köcks Anspruch, „dass die Dinge thematisiert werden müssen“ (S. 13), folgte sein Vorsatz: „Keine Tabus, alles auf den Tisch.“ (S. 13)

Er erläutert: „Das hier ist also ein fortlaufendes Gespräch mit der Gegenwart, gegen eine Zukunft, in der ein rechtsextremer Politiker tatsächlich mit der Regierungsbildung beauftragt werden könnte.“ (S. 21) Der Autor handelt als Zeitzeuge. Er befürchtet, „dass der herbertkomplex und die dazugehörigen herbertverblendungszusammenhänge es ermöglichen“, (S. 21) dass Herbert Kickl bald Kanzler von Österreich werden könnte. Und er zweifelt, ob dieser „durch eine gefestigte Demokratie aufgehalten werden könnte.“ (S. 21) Doch was ist eine gefestigte Demokratie und was sind ihre Voraussetzungen?, fragt Köck.

Er zeichnet den aktuellen Aufstieg der FPÖ nach, damit auch den Aufstieg des Demagogen Herbert Kickl und dessen österreich-typische „Kleinermannhaftigkeit“ (S 64) und er zitiert aktuelle Umfragen, die die FPÖ als stärkste Kraft ausweisen. Er thematisiert den „Dauerwahlkampf in spätmodernen Postdemokratien“, (S. 144), alltäglichen Populismus nicht nur in den Migrations-, Asyl-, Gender- sowie Coronadebatten, zeigt das rechte Hantieren „mit retrotopischen Floskeln“ und die Konstruktion eines „mythologischen DAMALS“. (S. 37) Es seien Spins, mit denen von Politiker:innen und sogenannten alternativen Medien Apokalypsen heraufbeschworen und Schritt für Schritt „der Rechtsstaat desavouiert“ werde. (S. 169)

Darüber hinaus sammelt Köck Meldungen über die Ibiza-Affäre, René Benko und die Signa-Pleite, von Gerichtsverhandlungen gegen den früheren Bundeskanzler Sebastian Kurz sowie von dessen Populismus und machtpolitischer Agenda, aber auch von entlarvenden Chats von Thomas Schmid in der ÖVP-Korruptionsaffäre oder der Wahlpanne bei der Wahl des SPÖ-Vorsitzenden, von Shitstorms und allgemeiner Politikverdrossenheit. Als Ursprung der heutigen politischen Verwerfungen identifiziert Köck den Neoliberalismus und geht auf die mächtiger werdenden Hallräume der sozialen Medien ein.
In Deutschland listet er ähnliche Vorgänge, Entgleisungen und Mechanismen auf, deren Ziel es ist, „Macht durch Eskalation, Expansion, Disruption“ (S. 87) nicht nur zu erhalten, sondern stetig zu mehren. Köck vergleicht die Wahlerfolge der AfD mit jenen der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1932, die damals 33,1% der Stimmen bekam, „um am Ende die parlamentarischen Regeln außer Kraft zu setzen […] und einen illiberalen, antidemokratischen, totalitären Staat umzusetzen.“ (S. 137)

Zwischendurch beginnt er, an sich und seinem Vorhaben zu zweifeln. „Ich gebe zu, ich weiß überhaupt nicht mehr so viel über Österreich“, (S. 109) schreibt der seit langem in Deutschland lebende Autor, an anderer Stelle: „Ich weiß gar nicht, wie das in Österreich eigentlich ist“. (S. 188) Er hat den Eindruck, dass „die Welt zunehmend entgleist“ (S. 182), fragt sich angesichts seiner Ängste, ob er „einfach paranoid“ sei. (S. 173) Die Protokolle, die er „einmal als eine Art notwendige Chronik begonnen“ habe, werden für ihn allmählich „eine ziemliche Belastung“. (S. 194)

Am 3.11. hadert er: „Gestern wieder gedacht, das war jetzt wieder so eine erschöpfende, dumme Idee, ein Jahr lang dem zunehmenden Eskalieren der Töne zuzuhören und den Zusammenhängen nachzuspüren – ich bin schon völlig fertig davon. Und ich gebe dem allen auch noch so viel LEBENSZEIT.“ (S. 201) Dennoch hält er durch bis zum 23. März 2024, danach sind Lücken, kein Eintrag im April, nur wenige im Mai und Juni. Zuletzt gibt es zwei Kapitelüberschriften ohne Text. SOMMERLOCH deutet an, dass es bis zur Wahl im Herbst auf ähnliche Weise weitergehen werde, während der letzte Titel mitten im Wort abbricht und als HERBSTD– den Ausgang der Wahl nur vermeintlich offen lässt.

Was dieses Logbuch besonders lesenswert macht, ist, dass Köck nicht nur protokolliert und Geschehnisse chronologisch aneinanderreiht, sondern Zwischenräume schafft, in denen er sich positioniert und Entwicklungen kommentiert, manchmal gefärbt mit leiser Ironie. Manches macht ihn fassungslos, etwa dass „herbert“ Begriffe der NSDAP wie Systempresse oder Volksverräter verwendet und man darüber nicht mehr überrascht ist, sondern nur noch stumpf „diesem retrotopischen Sound der Grenzüberschreitungen, der Abwertung, der Ausgrenzung, der Beleidigungen, der Reproduktion von rechtsextremen Begriffen“ (S. 320) zuhört.

Köck fragt, warum angesichts populistischer Stimmungen, Schlagworte und gehässiger Zuspitzungen nicht endlich über Inhalte und strukturelle Probleme gesprochen und gemeinsam an demokratischen Lösungen und Perspektiven gearbeitet werde. Der 1986 in Steyr geborene Autor prangert zudem ungleiche Startbedingungen und die feudale Praxis des Ausschlusses an, erzählt vom Aufwachsen auf dem Land und davon, als Sohn eines Tischlers bis heute an Grenzen, Barrieren und habituelle Widerstände zu stoßen.

Er weist auf körperliche Beschädigungen durch harte Arbeit und (selbst)ausbeuterische Care-Arbeit hin und er thematisiert, wie viel aufwendiger es für Menschen unterer Klassen sei, in einem bildungsbürgerlichen Kontext akzeptiert zu werden. Bis heute begleite ihn das Gefühl, „nicht zu genügen, nicht zu passen […] mehr arbeiten zu müssen, um zu beweisen, dass ich sein darf, wo ich bin“. (S. 16) Der Autor plädiert für einen Wandel, der Ökonomie und Politik, Ökologie und Klasse zusammendenkt und allen Bürger:innen Chancengleichheit einräumt. Denn: „Was bedeutet gefestigte Demokratie, wenn keine fairen Grundvoraussetzungen herrschen?“ (S. 21)

So legt Thomas Köck ein engagiertes, zeitkritisches Buch vor, das die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart anhand eines Jahres in Deutschland und Österreich widerspiegelt und dennoch weit darüber hinausweist. Denn wie soll, wie kann man sich angesichts einer erstarkenden Rechten persönlich positionieren? Zugleich setzt Köck die Verwerfungen in einen Kontext, zeigt Klassismus auf und hinterfragt die Bedingungen von Klassengesellschaften. Er ruft Lektüren von Autor:innen auf, die sich mit der Klassenfrage beschäftigten. Vor allem aber denkt der Autor in seinem persönlichen Tagebuch mögliche Auswege und Lösungen an und gibt damit einen Anstoß für dringend nötige Diskussionen, die auch in den kommenden Jahren noch zu führen sein werden.

 

Monika Vasik, geb. 1960, Studium der Medizin an der Universität Wien, Promotion 1986; Lyrikerin, Rezensentin, Ärztin; Literaturpreise u. a. Lise-Meitner-Preis 2003, Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis 2020; Mitbegründerin und bis 2022 Mitverantwortliche der Poesiegalerie; mehrere Lyrikbände, zuletzt: hochgestimmt (Elif Verlag, 2019) und Knochenblüten (Elif Verlag, 2022). www.monikavasik.com

Thomas Köck: Chronik der laufenden Entgleisungen
Berlin: Suhrkamp Verlag, 2024.
368 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-518-43211-2.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

 

Rezension vom 31.12.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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