#Theater

Chorphantasie

Gert Jonke

// Rezension von Martin Kubaczek

Konzert für Dirigent auf der Suche nach dem Orchester.

Das Orchester kommt nicht, dafür die Flut. Der genialische Dirigent aber weicht nicht, sondern wendet sich ans Publikum, das sich so plötzlich als Teil der Inszenierung findet, und beginnt mit seinen Erziehungsmaßnahmen: Suggestiv dirigiert er von der Bühne aus Atmung, Blick und Hören des Publikums, schwört es, mitunter zu drastischen Maßnahmen greifend, auf seine Anweisungen ein. Die Zuhörer werden als „Schalldenker“ und „Horchmusikanten“ apostrophiert, die Symphonie erklinge zwingend in ihrem Inneren, kehrt der Dirigent die Not zur Tugend, und bei so viel Wendigkeit müsste man ein wenig gewarnt sein, ist man vorerst aber nicht.

In das ideale Setting tritt mit dem Pedell eine Gegenfigur, die in ihrer Verschlagenheit die kontaminierte Realfigur zwischen Macht und Ohnmacht darstellt, den dubiosen Mittler zwischen den abwesenden Real-Entscheidenden und dem auf der Bühne gegenwärtigen Imaginisten ohne Welt. Zwischen Hohn und Abhängigkeit, angewiesen auf die Informationssplitter, die der Hausmeister ihm zukommen lässt, belehrt, befragt und beschimpft der Dirigent diesen ihm abwechselnd mit Interessiertheit, herablassender Verachtung oder hinterhältigem Belauern begegnenden Kontrahenten, der ihm schließlich die Nachricht überbringt, das vom Hochwasser bedrohte Gebäude sei auf obersten Befehl hin augenblicklich zu räumen.

Jonke schreibt eine spielerisch vertrackte Prosa, skeptisch, witzig, phantastisch, voller Verve für das Indefinite, voller Reserve gegen die ideelle Abgeschlossenheit. In seinen Texten erscheint immer etwas Fragendes, er öffnet mehr als er abschließt, er beharrt auf der Unsicherheit von Phantasie, Komik, bis ins Surreale und ins Absurde gehender Imagination, unterwegs in den „eulenspiegelhaften Luftschlosslabyrinthen der Sprache“ (wie es in einer Rezension der „Zeit“ zu Jonkes „Der ferne Klang“ heißt).

Der Titel des Stücks bezieht sich auf Beethovens monumentale Chorfantasie, Opus 80, im Theater an der Wien 1808 uraufgeführt. Aber das gedankliche Spiel mit der idealen Stille, in der das All-Eine der Welt erklingt, erinnert an Cage. Alles ist Poesie, alles ist Musik, man muss nur zuhören können, hinlauschen. Das Unhörbare ist das Unerhörte, und der Dirigent ohne Orchester erscheint als der tollkühne Mystiker, der materielos, weil ohne orchestrale Klangverschmutzung, das ideale innere Hören erschaffen will. Verweigert sich das letztlich doch eintreffende Orchester, übernimmt der Dirigent die Verweigerung als ideale Geste, und macht damit noch Profit – so könnte man das Stück abgekürzt zusammenfassen. Romantische Motive wie das „Durchscheinen der Seele“ werden mit apokalyptischen Motiven unterwandert, Skepsis mit Verzückung, Erfülltheit mit Berechnung, Komik mit Pathos, Gleichnis mit Persiflage, wie Jonke dies auch schon im Titel zu seinem früheren Beethoven-Stück „Sanftwut oder der Ohrenmaschinist“ in antinomische Gleichsetzung bringt.

Vieles ist seltsam bei Jonke. Da sind die befremdlich exaltierten Sätze des Chores über die akustische Verschmutzung der Welt, da taucht auch wieder die Geschichte der sich gegenseitig malenden Liebes-Portraits aus Jonkes „Insektarium“ auf, und es gelingt Jonke wie immer spielerisch, Leser (oder Publikum) aller Sicherheiten des Verstehens zu berauben, was nun Naivität und was ironische Brechung, oder ob das alles nicht doch höchste Raffinesse sei. Jonke lässt viel zu, er riskiert weit mehr als unsere hochgelobte Meinungsliteratur, er tänzelt an der Grenze zu Kitsch und Banalem, spielt mit der Langeweile, nur um dann, nach textlichen Untiefen, zu überraschen mit einer zweiten Welle und einer dritten, die wie plötzliche Aggregatschübe die Handlung vorantreiben und das Geschehen auf eine andere Verstehensebene hin öffnen. Das Genialische erweist sich mit einem Mal als das Durchtriebene, das Mürrische als Tarnung des Spitzels, das Herrische als Eigensinn über tiefer Unsicherheit und die Empörung des missbrauchten Orchesters geht wieder ihren Sehnsuchts-Kompromiss mit dem Dirigenten ein.

Jonke variiert in diesem Stück wieder sein Thema der Suche nach dem Absoluten in der Musik, wie es etwa schon in seinem 1985/86 produzierten Spielfilm „Geblendeter Augenblick – Anton Weberns Tod“ auf den radikalen Punkt gebracht wurde: Erst das schweigende Orchester sei das wahre, nur die nicht exerzierte Musik die wirkliche Musik. „Nur wenn wir wirklich nichts, gar nichts mehr hören können, werden wir die Musik begreifen und verstehen. Hören Sie!“, hieß es schon im Essay „Gegenwart der Erinnerung“ und in der Novelle mit dem Titel „Stoffgewitter“ findet sich das Transzendenzmotiv des Einholens der Welt im tiefen Atmen, mit dem nun die „Orchesterfantasie“ beginnt, „jetzt ruhig atmen, einmal noch einatmen und einmal noch ausatmen“, sagt Webern dem Besatzungssoldaten (der ihn im wirklichen Leben 1945 irrtümlich erschossen hat) und erübrigt so die Tat.

Das Stück endet mit einem anderen Motiv, das sich neben der musikalischen Thematik immer wieder in Texten Jonkes findet: mit der Flugmetapher, dem Abhauen in eine Art träumerische Freiheit hinaus. Im Schlussbild des Stücks steigt das Orchester mit seinem apodiktischen Dirigenten ins Fluggerät und hebt ab, steuert durch ein Loch in der Decke des Konzerthauses hinaus, während unten die Flut schon die Mauern umspült. Das Haus der Kunst erweist sich als von höchster politischer Stelle längst zum Abbruch freigegeben, aber die Idee der Kunst, hier durch Gauner, Genie und Scharlatan der Person des Dirigenten, davon unberührt, entkommt.

Ein hartgesottener Freund erzählt mir, er habe am Ende der Aufführung geweint. Das sei ihm in fünfzig Jahren erst einmal im Theater passiert. Das ist das Eigentümliche an Jonkes Poesie, die hierin noch eher an Raimunds Zaubertheater als an Eulenspiegels maieutisches Hereinlegen erinnert: dass er die wunderbare, die unverständliche, die hoffnungslos aussichtslose Sehnsucht nach Vollkommenheit rettet. Nicht im Kopf gewinnt das Utopische, sondern Jonke holt es spielerisch aus dem Kopf in die Präsenz zurück. Das Wunderbare und die Phantasie, die Transzendenz und das Absolute, das Ideal der Vollkommenheit und die Sehnsucht danach sind unverletzlich. Im Stück wird selbst der Himmel „privatisiert“, das heißt an Werbeagenturen verkauft, aber selbst gegen diese Indoktrinationen existiert das utopische Bewusstsein fort und kehrt diese so in jene Ohnmacht, die ihm ständig unterstellt wird.

Das Faszinierende bei Jonke ist seine Fähigkeit, das Denken mit Komik und sprachphilosophischer Beharrlichkeit auf diese paradoxe Situation hin zu öffnen und dort zu belassen, allem „vernünftigen“ Wissen zum Trotz. Es hat dafür ein einfaches, aber überzeugendes Argument: Gäbe es die Kunst nicht, wäre die Geschichte der Menschheit eine Horrorgeschichte – „Das Schöpferische ist unsere einzige Chance“ (Dossier Gert Jonke, Droschl-Verlag, Interview mit G. Eichinger).

Gert Jonke Chorphantasie
Stück.
Wien, Graz: Droschl, 2003.
74 S.; brosch.
ISBN 3-85420-627-5.

Rezension vom 20.01.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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