Florian Neuners China Daily ist ein virtuelles chinesisches Reisetagebuch aus mitteleuropäischer Distanz. Ein Dutzend verschachtelte Betrachtungen, in denen Gesellschaft, Politik, Natur, Kultur und vegetative Körperfunktionen wiederkehrend abwechselnd angesprochen und assoziativ verknüpft dastehen, jegliche Reise, die physische und die gedachte, ist eine Reise unseres Hirns, warum also nicht einmal das Hirn alleine in ein Flugzeug setzen …
Es ist offenbar eine halboffizielle Tour. Eine Lesereise vermutlich. Der Ich-Erzähler besorgt sich vor dem Abflug noch eine kleine Schnapsflasche, „für alle Fälle. Das Flugzeug mit einer Tüte voll Bierflaschen zu betreten ist ja schlecht möglich.“ Schließlich heißt es im vorangestellten Motto: „Erst betrunken kann man Chinesisch sprechen. Yu Dafu“. So weit kommt es aber nicht. Unser Reisender besäuft sich nicht prophylaktisch, sondern lässt sich bei vollem Bewusstsein ein aufs Abfliegen, Ankommen und Sich-anpassen, hat kein Interesse daran, irgendwo anzuecken. Lieber reflektiert er über das, was er sieht, spickt es mit allgemeinen Infos über China, gut geschüttelt, ungerührt.
Ein Ausflug in die Homosexuellen-Szene verleiht den Notizen Authentizität. „Ob man sich über die Luft in schwulen Kneipen mit dem HI-Virus anstecken könne? Wir verneinen und der junge Chinese ist beruhigt.“ Wer der zweite Part des „wir“ ist, erfahren wir nicht. (Genau genommen erfahren wir auch nicht viel mehr über den Ich-Erzähler, aber den, der erzählt, glauben wir ja immer in gewisser Weise zu kennen.) Dafür haben wir teil an chinesischen Zeitungsmeldungen, etwa aktuellen Verwicklungen der Politik, die auch im Alltag sichtbar werden, etwa in gesteigerter Polizeipräsenz. Wir werden Zeugen der Berichterstattung über eine Heuschreckenplage und unterhalten uns auch ein bisschen mit ein paar Chinesen. Das alles wirkt oft recht unmittelbar. (Was der Erzähler sich dabei im Stillen denkt, steht ganz gern in Klammern.) Und erst bei viel genauerer Betrachtung wird uns klar, dass wir das meiste keineswegs aus erster, sondern oft aus zweiter, wenn nicht gar aus dritter Hand erfahren. Eine Montage des alltäglich Erlesenen.
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Oder auch nicht (man denke nur an die Unmengen von unerträglich öden Reisebeschreibungen, die vor lauter Informationsvermittlung aufs Erzählen vergessen).
Bei Florian Neuner ist es umgekehrt. Wir lesens gern und haben doch nicht viel erfahren. China goes Molvania, und bleibt uns unbekannt wie je zuvor. Und am Ende lassen uns dann Autor und Erzähler, offenbar wieder traut vereint, mit voller Absicht im Regen stehn: „Der Dichter kommt außer Atem. Er spricht seinen Dank aus. Er gähnt. Angeekelt geht er fort. Kann nichts mehr sagen. Alles zerfällt. Das übrige ist flüchtig und variabel, bleibt abhängig von der Phantasie der Lesenden.“ Aber ist das nicht (fast) immer so?