#Roman

Chicken Christl

Martin Amanshauser

// Rezension von Helmut Sturm

Vor ein paar Monaten erwarb ich ein so genanntes Mängelexemplar der gesammelten Gedichte des Pianisten Alfred Brendel, die mit dem Titel „Ein Finger zuviel“ meine Neugier entfachten. Darin taucht ein zusätzlicher Finger während des Klavierspiels unvermutet an den ungewöhnlichsten Stellen auf: „hie und da“ schießt er aus der Nase, manchmal kriecht er unter den Frackschößen hervor, dann steigt er aus dem Hemdkragen auf …

In Martin Amanshausers neuem Roman spielt ein Finger zuviel – an jeder Hand allerdings – für den Ich-Erzähler, Mika Koegl, eine wichtige Rolle. Er hat eine in der Familie vorkommende Anomalie, „der Fachbegriff lautet Polydaktylie, im speziellen Fall Hexadaktylie, eine genetische Abweichung von der normalen Fünfstrahligkeit.“

Abweichung vom Normalen, und was damit gemeint sein könnte, ist eines der Grundthemen, die dem Roman zugrunde liegen. Er ist in 42 mit pointierten Überschriften versehene Abschnitte eingeteilt. In seinem Romanerstling „Im Magen einer kranken Hyäne“ ließ Martin Amanshauser über den Erzähler einen „Schleier der Idiotie“ fallen, in Chicken Christl wird offensichtlich, dass dieser Schleier über der gesamten Erfahrungswelt des Protagonisten und Erzählers gesunken ist. Bereits der erste Satz macht deutlich, dass wir als Leserinnen und Leser in eine Welt des Ver-rückten eindringen: „Bevor ich von Wahnsinnigen entführt wurde, die mich zu ihrem Gott machen wollten, …“

Es braucht schon geeignete Beschwörungsrituale, um da nicht völlig den Verstand zu verlieren. Der Enkel von Major Koegl, „der war immerhin US-Präsident“, verlegt sich aufs Zählen: Drachenflieger, Wassertropfen am Fenster, Autos … Die Freundin verlässt ihn trotzdem und die schwerwiegende Entscheidung, ob er sich die überzähligen Finger chirurgisch entfernen lassen soll, bleibt zunächst offen. Dabei geht es nicht bloß um körperliche Integrität und möglichen Identitätsverlust durch eine Schönheitsoperation, sondern für seine Entführer, die „Novgoristen“, benannt nach dem Berater Major Koegls, sind die zwölf Finger Mikas ein Zeichen dafür, dass dieser der Klon des verehrten Großvaters ist.

Martin Amanshauser spricht mit seiner lakonisch in kurzen Sätzen vorgetragenen Erzählung über Biotechnologie, Politikerehen, Wahlkampf und die Verschwörung einer Faschistensekte durchwegs aktuelle Probleme an. Die schräge Welt des Romans wird nach und nach zu einer überraschenden Anregung zum Nachdenken über hochexplosive Zustände. Auf der Umschlagrückseite ist das Symbol für leichtentflammbares Material unter einer Reibfläche für Zündhölzer angebracht. Spiel mit dem Feuer.

Spiel und Anspielungen charakterisieren die Verfahrensweise Martin Amanshausers gut. Wir finden sie zuhauf. Auch Verweise auf sein eigenes Werk sind nicht zu überlesen. So erreicht die Biographie über den Großvater „Chicken Koegel“ „innerhalb kurzer Zeit 100.000 verkaufte Exemplare“. Die im Gasthaus Heiliger Urban in Podersdorf aufgestöberten Zeitzeugen sind alle gute Freunde des Majors gewesen, der „vom Ami im Burgenland zum Volkstribun“ wurde. Dass Amanshausers Antihelden degoutante Probleme haben, gilt auch für Mika, der in Stresssituationen sich beständig Gedanken über seine Po-Hygiene machen muss. „Gegen die Phantomschmutzigkeit half nur Arbeit.“

Die Frauen und die Liebe und der Sex – klischeehaft bisweilen, aber nicht ohne Witz. Mika weiß eigentlich nie recht, mit wem er es zu tun hat. Selbst sein sexuelles Glück mit der Sex-Kolumnistin der „Tacoma Post“, Susan Andretti (ist sie die Tochter von Formel-1-Weltmeister Mario Andretti?), erlebt er nur unbewusst: „Ich möchte wissen, was passiert ist!“

„Der Klimperer mit den sechs Fingern“ wird Mika einmal von seiner Mutter genannt. Er erzählt eine Geschichte aus dem Brautigam-Land, auf die seine Charakterisierung von „Chicken Koegl“ zutreffen könnte. „Wie die meisten Biografien war das Buch ein verlogenes Stück Dreck, aber es war gut gemacht und las sich wie die Wahrheit.“ Zumindest liefert Amanshauser augenzwinkernd die Ingredienzien (Dreck, Verlogenheit, Wahrheit) für das, was wir Leserinnen und Leser daraus machen.

Martin Amanshauser Chicken Christl
Roman.
Wien, Frankfurt am Main: Deuticke, 2004.
181 S.; brosch.
ISBN 3-216-30679-8.

Rezension vom 01.09.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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