#Roman

Cherubino

Andrea Grill

// Rezension von Alexander Kluy

Womit anfangen? Mit dem Roman? Oder mit der Playlist, die ihn beschließt?

Hat man sich, aus Neugier, für Letzteres entschieden, wird man sogleich vor einem Problem stehen. Denn alle Angaben über die aufgelisteten zehn CDs, von „The Secret of Song. Lieder von Haydn, Rachmaninoff, Wolf, Weill, Mahler, Webern“ aus dem namhaften Orfeo Label über Grenzgängerisches („Punk meets mezzo“), Schubert- und Bellini-Lieder bis zu „About my desert, my rose. Vocal improvisations on pieces of Aleksandra Vrebalov“, eine Produktion des Experimente-affinen Nonesuch Unternehmens, bis zu „Minimal Mozart“ von 2017, Mozart-Arien, zeitgenössisch-klangartistisch untermalt vom Duo Paradox, sind kunstvoll erfunden, inklusive des Duo Paradox und Aleksandra Vrebalov. Retour also zur Prosa Andrea Grills, in der – der Titel Cherubino zeigt es schon an – Musik eine zentrale, wenn nicht die Hauptrolle spielt.

Iris Schiffer ist Mezzosopranistin und hauptberufliche Sängerin. Die Enddreißigerin lebt in Wien und ist seit einigen Jahren selbstständig, nachdem sie eine Festanstellung an der Grazer Oper aufgegeben hat. Emotional ist sie gefestigt, amourös pendelt sie seit Längerem zwischen zwei Männern. Zwischen Sergio aus Monza, seinerseits Tenor, fünf Jahre jünger, auf der Karriereleiter energisch aufsteigend – er wird unter anderem von den Bregenzer Festspielen für eine Hauptrolle verpflichtet –, und Ludwig, einem Politiker aus dem Salzkammergut. Dieser ist um neunzehn Jahre älter als Iris, verheiratet, hat drei fast erwachsene Kinder. Sie ist die Geliebte beider. Und sie liebt beide. Zu unterschiedlichen Zeiten. An unterschiedlichen Orten. Ohne dass die Männer voneinander wissen. Seit ihren Mittzwanzigern ist Iris in ihrem Gefühlsleben nicht mehr monozentriert. Sondern sie gönnt sich Affären und geht längere oder kürzere Beziehungen nach Gusto ein, auch parallel. Einmal gesteht sie einem Geliebten den Simultanpart, worauf es zum jähen, schmerzhaften Beziehungsabbruch kommt. Seither verzichtet sie darauf und arrangiert mit ihrem Kalender ihr Gefühls- und Sexleben.

Und dann – sie hat Verträge für ihre bisher größten und wichtigsten Auftritte in der Tasche, die Rolle des Cherubino in Mozarts „Le nozze di Figaro“ an der Metropolitan Opera in New York und die Hauptrolle in der Oper „Sophie’s Choice“ bei den Salzburger Festspielen – stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Aber von welchem Mann?
Sie hält alles in der Schwebe, versucht es zumindest. Sie hält es gegenüber den Bühnen verborgen. Und gegenüber ihrer viel älteren, rührigen, nahezu befreundeten Agentin. Denn allzu bekannt ist, dass auf Grund bestimmter arbeitsrechtlicher Regularien Schwangere ab einem gewissen Stadium nicht mehr auftreten dürfen. Da sowohl New York als auch Salzburg Iris‘ bisherige Karrierehöhepunkte zu werden versprechen, wäre das fatal.
Iris absolviert die „Figaro“-Proben trotz herausfordernder Regie-Einfälle ebenso großartig wie die umjubelten Aufführungen, innerlich oszillierend zwischen Euphorie und Beziehungszweifeln. Jene zu Sergio, der sich wie ein italienischer Klischee-Papa verhält, friert Iris ein auf distanzierte Freundschaft, lässt sich dann aber wieder von ihm bezirzen und fasst den Gedanken, dass er eventuell doch ein besserer Kindsvater wäre als Ludwig, der ihr emotional näher ist, sich jedoch nicht scheiden lassen will.
New York ist ihr künstlerischer Durchbruch. Sie wird bejubelt, bekannt, auf der Straße erkannt, von Journalisten interviewt. Und dann nahen die Salzburger Festspiele. Iris‘ Auftrittsdaten überschneiden sich laut Kalkulation ihrer Gynäkologin nicht mit der Niederkunft, diese soll etwa zwei Wochen später stattfinden. Und doch wird sie kaltgestellt. Und genau sieben Tage später inständig gebeten, die Hauptrolle doch zu singen. Mittlerweile war ein kurzer Mitschnitt einer von ihr sacht parodistisch abgewandelten, virtuos interpretierten Mozart-Arie online gegangen. Die 3:09 Minuten werden zum viralen Hit mit zigtausenden Klicks und machen Iris zum globalen Star. Doch den lange einstudierten Part in „Sophie’s Choice“ verhindern dann die einsetzenden Wehen.

Neun Monate und selbstredend vier Akte umfasst dieses fein komponierte Buch. Und es endet triumphal mit der Geburt des Sohnes. Andrea Grill, promovierte Schmetterlingsforscherin und auch Autorin eines bezaubernden essayistischen Schmetterling-Bändchens in der Reihe „Naturkunden“ des Matthes & Seitz Verlags Berlin, zeichnet psychische Verästelungen ebenso sensibel und subtil nach wie Biologisches. Und nebenbei ist „Cherubino“ auch ein amüsanter, sanft satirischer Musiktheaterroman, in dem das so genannte Regietheater karikiert wird, das konzeptuelle Gehabe und abseitig-kapriziöse Einfälle sowie das Mit- und Durcheinander hinter den Kulissen.

Andrea Grill Cherubino
Roman.
Wien: Zsolnay, 2019.
304 S.; geb.
ISBN 978-3-552-05949-8.

Rezension vom 22.07.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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