#Prosa

Calling

Michael Köhlmeier

// Rezension von Susanne Zobl

Calling, so der englischsprachige Titel von Michael Köhlmeiers jüngster Erzählung, hält mehr als er verspricht. Versprochen wird zunächst nicht mehr und nicht weniger als eine Kriminalgeschichte, so auch der Untertitel. Doch eingefleischte Köhlmeier-Leserinnen und Leser, mögen bereits ahnen, daß sich der österreichische Erfolgsautor damit nicht zufrieden gibt.

Die Story erscheint einfach gestrickt: eine Frau, Elisabeth Muhar, erhält einen anonymen Anruf. Der Mann am anderen Ende der Leitung meldet sich lakonisch: „Noch lebt er.“ Eigentlich hätte sie den üblichen Anruf von Harry, ihrem Ex-Mann erwartet, der sie täglich nachmittags zu besuchen und danach anzurufen pflegt, doch stattdessen meldet sich eine unbekannte Stimme. Zunächst befolgt sie noch deren Anweisungen und dreht die Stereoanlage ab. Ohne jedoch weiter auf den Anrufer einzugehen, legt sie auch den Hörer auf. Endlich meldet er sich wieder und droht, sobald sie wieder auflegen würde, ihren Ex-Mann umzubringen. Sie kann nur Mutmaßungen über diesen Mann anstellen, kann nur auf seine Forderungen eingehen. Vermutlich hat er eine Pistole und bedroht tatsächlich den nunmehr wehrlosen, verhinderten Anrufer. Beim Wählen ihrer Nummer hatte er ihn überwältigt, war durch ihn an sein nächstes Opfer herangekommen.

Doch was will dieser Mann eigentlich von ihr, außer ihre Stimme am Telefon, ihre Zeit? Sie überlegt, wie es ihr gelingen könnte, Hilfe zu holen, die Polizei zu benachrichtigen. Wie sie es unter höchster Anspannung schafft, den Anrufer zu überlisten und das Telefonat auf ihr Schnurlostelefon umzuleiten, wie sie unter größter Anstrengung, den Weg aus ihrer Wohnung zu den Nachbarn zurücklegt, ohne sich zu verraten, könnte Hitchcock nicht besser inszeniert haben.

„Bei Anruf Mord“? Sie kann es nur vermuten. Wie weit wird dieser Mann gehen, wie lange wird sie dieser Spannung noch standhalten können? Einer Nachbarin konnte sie nur über deren ausländische Putzfrau Nachricht hinterlassen. Die Stimme hält sie ohne Unterlaß in ihrer Gewalt. Beschimpft sie, lobt sie, wiegt sie in Sicherheit, um gleich wieder mit Drohungen fortzusetzen. Endlich läutet die Nachbarin. Der Anrufer hat nun ein drittes Opfer. Stellt seine Forderungen auch an sie, bis Muhar diese endlich hinauswirft.

Das Ende mag die/der geneigte Leser/in selbst herausfinden. Soviel sei jedoch verraten: Es ist ebenso überraschend wie schlüssig. Denn Köhlmeier legt mit seinem Thriller keineswegs nur eine Geschichte von höchster Spannung vor, sondern wagt sich Schritt für Schritt an die Grenzen des Erträglichen heran. Wie weit gehen Menschen in Extremsituationen? Was können sie ertragen? Wozu sind sie bereit? Während sich eine Frau dem Kampf, dem Nervenkrieg mit einem Unbekannten stellt, nimmt draußen auf der Straße der Alltag seinen gewohnten Lauf. Das Alltägliche wird dabei dem Extremen gegenübergestellt, ohne gekünstelt zu wirken. Köhlmeier gelingt es dabei auch, mit wenigen Worten in diesen Thriller die Geschichte einer Frau, die Geschichte einer ungewöhnlichen, gescheiterten Ehe zu verweben. Allein dies wäre schon ein eigenes Buch wert, denn was dieser Mann an seiner Frau verübt, fällt keineswegs nur unter die Rubrik Ehebruch. Während sie beim Rundfunk ihr Geld verdient, gibt er zu, sie mit mehreren Frauen betrogen zu haben.

An sich eine ganz gewöhnliche Geschichte. Doch nicht so bei Köhlmeier. Selbst bei den immer wieder in die kurzen Gesprächspausen eingestreuten kurzen Rückblicke in die Biographien seiner Protagonisten skizziert er das Psychogramm jeder einzelnen Figur minutiös, zeigt, wie verletzlich, wie kompliziert und wie faszinierend sie sind.

Calling mag zwar als Thriller spannender wie kein zweiter dieses Genres sein, jedoch ist dies nur ein Grund, dieses Buch zu lesen. Und davon gibt es viele.

Michael Köhlmeier Calling
Eine Kriminalgeschichte.
Wien, München: Deuticke, 1998.
95 S.; geb.
ISBN 3-216-30412-4.

Rezension vom 29.10.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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